Was, wenn Einstein eine Art Ytong-Ei für den Hühnerstall namens Physik war? So fragt sich jemand in Franzobels Roman. Das hier gezeigte Beton-Ei verziert das Wohnhaus von Salvador Dalí an der Costa Brava. Bild: Picture Alliance
„Einsteins Hirn“ von Franzobel : Vom Hirn verkohlt
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Grotesk und gewitzt: Franzobel dichtet die wahren Geschichten der Obduktion Einsteins und der Rolling Sixties in Amerika um. Mit Übermut erzählt, allerdings ohne Schere und Feile.
Franzobel ist ein Phänomen: Seine salopp-süffige Schreibe deutet auf einen Unterhaltungsschriftsteller, sein Humor auf einen Komiker und die immense Recherche auf einen historischen Erzähler oder einen Reporter. Doch keine der Kategorien passt allein, jede würde für sein neues Buch zu kurz greifen. Nach dem Katastrophenstück „Das Floß der Medusa“ (2017), dem literarischen Pendant zu Géricaults großer Bildallegorie und zum Augenzeugenbericht eines Jahrhundertunglücks, tischt er uns jetzt eine nicht minder phantastische Geschichte mit mächtigen Wirklichkeitswurzeln auf.
Als Albert Einstein am 18. April 1955 in Princeton starb, entnahm der obduzierende Pathologe Thomas Harvey Augen und Hirn des Toten, die Leiche wurde wunschgemäß eingeäschert. Harvey wollte untersuchen, ob besondere hirnphysiologische Strukturen Rückschlüsse auf Einsteins Genialität zuließen, Teile davon wurden für mikroskopische Zwecke plastiniert, das restliche in Würfel geschnittene Organ in Einmachgläsern verwahrt, die sich im National Museum of Health and Medicine in Chicago erhalten haben.
So eine Story war für die Presse der Zeit natürlich ein Ereignis. Franzobel, der sich in diesen Riesenrummel vertieft hat und noch dazu, wie schon bei der Medusa-Geschichte, Originalschauplätze besucht und diesmal auch Zeitzeugen befragt hat, nimmt diese Hausse an der Informationsbörse mit. Und dichtet mit dem ihm eigenen Übermut und Witz hinzu, was ihm so einfällt.
Manchmal führt das auf abstruse Abwege, die zwar kurzweilig wie der Plot sind, deren deutliche Kürzung dem Buch aber keinerlei Schaden zugefügt hätte. Franzobel ist eben ein Plauderer. Doch einer mit Geist. Seine Idee, den Hirnklumpen im Glas eine Sprach- und Denkfähigkeit zuzuschreiben, die den Pathologen Harvey über 42 Jahre bindet und fasziniert, während ihm seine Frauen reihenweise abhandenkommen, ist natürlich völlig verrückt.
Keck wie der Homunkulus, lüstern wie Frankensteins Monster
Dieser Einfall verweist den Text nicht etwa in den Bereich der phantastischen Literatur, sondern ist eine ironische Wiederbelebung der antiken satirischen Gattung des Totengesprächs. Allerdings redet Einstein mit Lebenden – aus seiner Zeit beim Patentamt in Bern anfänglich gar auf Schweizerdeutsch. Zu Diskussionen, etwa mit dem nur einmal erwähnten Kurt Gödel wie in Daniel Kehlmanns „Geister von Princeton“, kommt es aber nicht. Das Hirn ist keck wie Fausts Homunkulus und lüstern wie Frankensteins Monster. Selbst eine Prostituierte, deren Dienste Harvey für Einsteins – sich über Enthaltsamkeit beklagende – Überreste in Anspruch nimmt, tritt in einen emotionalen Kontakt zu ihm.
Bereits die Organentnahme zu Beginn verrät Klasse. Wer je einer Autopsie beigewohnt hat, findet hier die routinierte Zerlegung und Exenteration präzise wiederholt. Franzobel hat sich darin schon mit einer drastischen Obduktion auf der „Medusa“ und mancher gruseligen Amputation und Leichenschau auf deren Floß bewährt. Beobachtet und protokolliert wird sie vom Erzähler, dem fast vollständig im Hintergrund agierenden FBI-Agenten Sam Shepherd. Er soll eigentlich kommunistische Umtriebe Einsteins aufdecken; als der Auftrag sich später erübrigt, wird er ins Irrenhaus abgeschoben. Doch von der Sektion an bleibt er Harvey dicht auf den Fersen und schildert das Ringen ums Hirn zwischen Einsteins Sohn, dem Nachlassverwalter und den Vorgesetzten der Pathologen.