Franz Kafkas Quarthefte : Literatur als Qual
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Ewiger Wandel der Gesichtsschichten: Die Skulptur von Franz Kafkas Kopf in Prag schuf der Künstlers David Černý. Bild: dpa
Die Wut galt seiner eigenen Syntax: Die historisch-kritische Faksimile-Edition von Kafkas „Oxforder Quartheften“ soll ihre Leser in die Entstehung seiner Werke verwickeln – und offenbart einen ewigen Schreibprozess.
Seit zwei Jahrhunderten sind deutsche Gelehrte führend in der Philologie, also jener Wissenschaft, die sich mit Edition und Interpretation von Texten abgibt. Von Zeit zu Zeit wühlen sie die Gelehrtenwelt auf. So war es mit Friedrich August Wolfs Homer-Interpretation von 1795: Wolf behauptete, dass Homers Epen von diversen Autoren verfasst wurden. Roland Reuss und Peter Staengle wiederum haben durch ihre Editionspraktiken das Verständnis von Kafka umgewälzt. Galt es bisher, in kritischen Ausgaben einen definitiven Text herzustellen, wie ihn der Autor vermeintlich intendierte, warfen die beiden Herausgeber im Anschluss an D.E. Sattlers Hölderlin-Ausgabe ihren Blick auf die Entstehung. Wie die Relativitätstheorie den Betrachter ins Weltbild einbezieht, so wollen diese Editionen ihre Leser in die Entstehung von Dichtung verwickeln. Dabei heben sie das Konzept eines fertigen Werkes auf. Was es zu erkennen gilt, ist ein ewiger Schreibprozess.
Wie Kafka 1913 an Felice Bauer schrieb, war er selbst ein Stück Literatur: „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“ Diese radikale Identität von Ich und Werk verlangt geradezu nach der neuen Darstellung. Nicht die Werke, sondern die Textträger stellen die Editoren vor, im aktuellen Fall die 1911/12 entstandenen „Oxforder Quarthefte 3 & 4“, die bizarrerweise nach ihrem Aufbewahrungsort bezeichnet werden: der Oxforder Bodleian Library, wo die Familie Kafkas einen Großteil seiner Papiere deponiert hat. Die von Reuss und Staengle erarbeitete Edition bietet ein Faksimile dieser Handschriften und Transkriptionen mit einigen sparsamen Erläuterungen. Kafkas Spinnenschrift, seine vielen Verbesserungen, seine Trennungs- und Wellenlinien und der klare Druck bieten ein eindrucksvolles Bild. Sachlicher, ja kühler kann eine Edition nicht verfahren.
Die Fehler der Konkurrenz
Doch als die beiden Herausgeber 1995 ihre Ausgabe vorstellten, lösten sie damit einen Skandal aus: Die Familie Kafkas sowie die Editoren der offiziellen Historisch-kritischen Ausgabe des Verlags S.Fischer vermeinten, hier eine ungebührliche Konkurrenz vorzufinden. Doch hatte die bisherige von Malcolm Pasley und seinen Kollegen nach herkömmlichen Mitteln gestaltete Edition selbst arge Fehler: Die Werke wurden darin nach diversen, oft widersprüchlichen Prinzipien ediert, und es erfolgten gar stillschweigende Eingriffe in die Textgestalt. Mittlerweile hat sich dieser Krieg gelegt. Wo Konkurrenz bestand, herrscht Zusammenarbeit. Und die neue Ausgabe ist selbst zum Klassiker geworden.