Frank Witzels neuer Roman : Lebenskrisen in Zeiten des Umbruchs
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Aus der Perspektive eines Jugendlichen erzählt Frank Witzel über den Sommer 1969 und die Fragwürdigkeit einer Gesellschaft. Wer sich darauf einlässt, wird feststellen, dass achthundert Seiten dafür nicht zu lang sind.
Kaum ein Roman der vergangenen Jahre hat Form und Inhalt in eine derart zwingende Beziehung gesetzt wie Frank Witzels Opus magnum: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ ist ein Koloss, der sich beim Lesen als Wundertüte entpuppt, wenn man sich auf sein Fließen einlässt. Roland Barthes hatte in der „Lust am Text“ vom Leser nicht nur „plaisir“, also das konventionelle, Sinn herstellende Lesevergnügen gefordert, sondern auch „juissance“: ein wollüstiges Versinken im Textkörper, der gleichzeitig fest und flüssig ist, ein ständiges Sinngestöber, das den Leser mitreißt und auflöst zugleich. Und nur so kann man sich diesen konzentriert komponierten achthundert Seiten nähern, in sie eintauchen und dabei feststellen, dass keines der achtundneunzig dichten Kapitel überflüssig ist.
Natürlich haben wir es mit einem manischen Autor zu tun, der schreibt und schreibt, nicht aufhören kann, ohne je geschwätzig zu sein - denn es geht um alles, nicht nur um diesen schicksalhaften Sommer. Ein existentieller Furor schweißt die Kapitel zusammen, als könnte der Schreibende nur, indem er schreibt und wahrnimmt und reflektiert und weiterschreibt, seinen Kopf retten samt Glaube, Liebe, Hoffnung.
Konzentriert blasphemische Blicke
Er arbeitet sich ab an einem wuchtigen historischen Thema: dem durch Terror herbeigeführten Ende der bleiernen Nachkriegszeit und all dem, was politisch und menschlich daraus folgte, und es sind vor allem seine konzentriert blasphemischen Blicke, die den Stoff leicht und durchlässig werden lassen.
Durch unzählige Abschweifungen, Traumprotokolle und fingierte Befragungen, die zwischen Verhör, Beichte und Therapiesitzung changieren, verwandelt sich die Welt der sechziger Jahre in ein leuchtendes Kaleidoskop, in dem auch Autoquartette und der Fleckentferner K2R, die magische Knete Silly Putty und Bananenschnitten mit Schokoguss Platz haben. Wie in barocken Romanen fassen am Ende des Buches die Kapitelüberschriften das Geschehen nochmals zusammen - für den überforderten Leser der rettende Faden durch dieses wuchernde Labyrinth nichtchronologischen Erzählens.
Im Sommer 1969 ist der Held der Geschichte dreizehneinhalb, die Kaufhausbrandanschläge vom April 1968 haben die Republik erschüttert und die erste Generation der Roten Armee Fraktion, vorübergehend auf freiem Fuß, wird kurz darauf in den Untergrund gehen. Seinen wertvollsten Ritter mit schwarzglänzender Rüstung hat der Teenager Andreas Baader genannt, und Gudrun Ensslin ist eine Indianersquaw aus braunem Plastik, die er nicht mag, weil sie keine Details hat - aber sie ist die einzige Frau bei seinen Figuren. In einem Heft notiert er alles, was mit einer von ihm imaginierten RAF zu tun hat, und entwirft ein Logo - analog zu dem des heimischen Turnvereins TVB, der ja auch „Tupamaros von Biebrich“ heißen könnte. Im Kopf des verstörten Jungen, dessen Mutter in diesem Sommer erkrankt und der in der Schule sitzenbleiben wird, entsteht ein wildes Roadmovie.
Der Erzähler als Alter Ego des Autors
Wie sein Autor ist der jugendliche Erzähler 1955 geboren und damit zu jung für die Studentenbewegung. Seine Götter sind die Beatles, neben Jesus und Gottvater natürlich, denn als Messdiener und späterem unfreiwilligen Insassen eines Konvikts werden ihm biblische Geschichten und Beichtregeln eingebleut. Noch als Erwachsener, der zweiten Erzählebene des Romans, schreckt er aus dem Schlaf und meint, er habe Dienst in der Kirche - worauf ihn seine Freundin Gernika als „dienstältesten Ministranten“ aller Zeiten verspottet.
Seine Pop-Sozialisation schrieb der in Wiesbaden geborene und heute in Offenbach lebende Autor im Roman gleich mit. Und eines der verblüffendsten Kapitel ist die Interpretation der Beatles-Platte „Rubber Soul“ als religiöse Erweckungsgeschichte: Wort für Wort enthüllen sich geheime Botschaften, wie ein Reißverschluss greifen Songtexte und Bibelexegese ineinander, und der einsame Teenager fühlt sich um beides betrogen. Was kann sein leergepumptes Ich in solchen Momenten noch tun? Aufgerieben zwischen Über-Ich und unbewussten Sehnsüchten bleibt ihm nur eine Ich-Simulation, die ihn im Erwachsenenalter teuer zu stehen kommt.
Dass es sich beim Erzähler um ein Alter Ego von Frank Witzel handelt, ist offensichtlich, aber vor eine zu große Nähe hat der Autor viele ironische Riegel geschoben. Immer wenn eine Stimme im Roman behauptet, jetzt würde es besonders authentisch oder autobiographisch, zieht uns der Erzähler den Boden unter den Füßen weg und stiftet mit seinen Erklärungen stattdessen Verwirrung.
Ehrlichkeit wirkt wie Verrücktheit
Aber in diese Falle geht er auch selbst: Noch als Erwachsener versinkt er in seinen Kindheitsprägungen, wird bei der RAF-Tagung in Hamburg ausgebuht, weil bei ihm immer wieder „das Private das Politische überholt“, erlebt dort ein Liebesdesaster nach dem anderen und verliert sich während einer Baader-Meinhof-Erinnerungs-Tour auf dem Ohlsdorfer Friedhof in lauter fein erzählte Recherchen. Darunter auch die Familiengeschichte der Tchibo-Gründer Tchiling-Hiryan, die ein Stück brutale Kolonialgeschichte nahtlos verzahnt mit der Politik des Dritten Reiches. Solche an Foucault geschulte Tiefenbohrungen verzeihen ihm seine Zuhörer nicht, wie sie ihm überhaupt Skrupel und Selbstzweifel übelnehmen: Sobald er versucht, ehrlich zu sein, hält man ihn für verrückt.
Geschmack und Geruch einer Zeit fängt dieser Roman ein, aufbewahrt in den Körpererinnerungen und intellektuellen Vorlieben der Generation von Wirtschaftswunder und Kaltem Krieg, zu denen obsessive Freud-, Camus- und Derrida-Lektüren gehören. Der Erzähler verstrickt sich in den Tod des Ex-Rolling-Stone Brian Jones im Swimmingpool, imaginiert die Selbstmorde in Stammheim und entwickelt eine „Therapie-Entwicklungs-Therapie“, die sich als Roman-Poetologie entpuppt. Es gebe keine Zentralperspektive in seinem Buch, sagt Frank Witzel, sondern wie auf gotischen Tafelbildern nur eine Bedeutungsperspektive, in der sich die Größe der Figuren und die Einteilung von Vorder- und Hintergrund allein nach den Gefühls- und Assoziationsströmen seines Helden bestimmen.
So wird die DDR hinter Mauer und Stacheldraht zum notleidenden, giftigen Höllenort, in den die verhasste Frau von der Caritas, die seine Mutter pflegt, entsorgt wird, oder, umgekehrt, diese wird gleich zur hochkarätigen Ost-Spionin. Dazwischen wirbeln amüsante, surreale Sprengkapitel, wie „Die Verfolgung und Ermordung des erwachsenen Teenagers“, die ganze prekäre Erzählordnung nochmals durcheinander.
„Ich dachte gerade, wir seien einen Schritt weiter gekommen, jetzt haben Sie wieder diesen Verlautbarungston“, schimpft der Verhörende am Ende des Romans. Doch liegt es an der Unabschließbarkeit des Themas, dass das Romanende sich zum Anfang zurückbewegt: Die DDR und das Scheitern der Aufklärung, zwei Lieblingsthemen des Erzählers, lassen sich ebenso wenig abschließend klären wie die gewaltige Zäsur, die die RAF für die Geschichte der Bundesrepublik bedeutet. Ein kluger und doppelbödiger Roman auf der Messerschneide eines politischen Bruchs und somit das seitenverkehrte Pendant zu Ingo Schulzes Wende-Roman „Neue Leben“: Hier wie dort geht es um eine persönliche Lebenskrise in Zeiten des Umbruchs und um die Fragwürdigkeit einer Zeit und einer Gesellschaft - dafür ist das Buch wahrlich nicht zu dick.