: Flugblätter für die Ewigkeit
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Aus der entrückten Flugperspektive und doch auf Augenhöhe der Fakten, so wollte der Romancier Olivier Rolin, Jahrgang 1947, das Jugendengagement seiner Generation noch einmal erzählen. Erkundungsgefährt ist ein alter Citroën DS mit Kosenamen "Remember". Im Cockpit sitzt der Erzähler, neben ihm Marie, die Tochter von Treize, seinem besten, verstorbenen Freund.
Aus der entrückten Flugperspektive und doch auf Augenhöhe der Fakten, so wollte der Romancier Olivier Rolin, Jahrgang 1947, das Jugendengagement seiner Generation noch einmal erzählen. Erkundungsgefährt ist ein alter Citroën DS mit Kosenamen "Remember". Im Cockpit sitzt der Erzähler, neben ihm Marie, die Tochter von Treize, seinem besten, verstorbenen Freund. Als Flugbahn dient die Ringautobahn des Pariser Boulevard Périphérique. Es ist Nacht. An der Porte d'Ivry hat der Fahrer die Ausfahrt verpaßt, um Marie nach Hause zu bringen. Einfach weiterfahren? "Es sei denn, du hast es eilig, nach Hause zu kommen? Nein? Ich bin fit. Ein bißchen angetrunken, aber nicht zu sehr. Also fahren wir weiter."
Runde um Runde fahren sie so die ganze Nacht. Im Augenwinkel gleiten endlos Verkehrsschilder und Reklameschriften vorbei - Exit Vincennes, Johnny Walker Keep Walking, Boulogne 100 Meter, Daewoo, Temp. 12 Grad, Rue de Palestine, Digital Sound. Es sind solche Reizsignale, die immer wieder Erinnerungen wecken und zugleich alle Worte in den Sog der Beliebigkeit ziehen. Denn der Mann am Steuer erzählt. Unaufhörlich erzählt er, wie es war, damals, als Pompidou an der Macht war, als die linksradikale Aktivistengruppe Flugblätter oder Geiselnahmen vorbereitete und jeder Tag Revolutionstag war - weniger mit dem Ziel realer Machtübernahme, sondern eher, um für die Revolution sterben zu lernen.
Der Roman von Olivier Rolin ist die selbstironische, aber ehrliche und überdies unterhaltsame Rückschau eines Zeitgenossen, der sich literarisch längst von jenen Jahren verabschiedet hat und sie "heute" - das heißt: graues Haar, bürgerlicher Lebensstil und vergangene Lust - dennoch nicht ganz verleugnen mag. Darin liegt das Überzeugende des Werks: daß es sich, anders als so manches einschlägige Buch der letzten Jahre, nicht mit salopper Selbstironie einfach vor jener Vergangenheit aus dem Staub macht, sondern das Thema selbstkritisch umkreist. Nur könnte man auf dieser Ringautobahn endlos immer weiterfahren, hundert, fünfhundert, tausend Seiten lang, und käme narrativ doch nicht voran. Vielleicht liegt es an der windigen Extravaganz der Zeit selbst, daß sie sich in keine geordnete erzählerische Form bringen läßt.
Das Wörtchen "du", mit dem der Erzähler vom ersten Satz an auch "ich" sagt - "Du magst das Wort Nacht, ebenso navire, night, noche triste, notta continua" -, schafft wie in einem permanenten inneren Dialog die Intimität der Aufrichtigkeit. Fast wirkt auch das andere "du", das des mitfahrenden Mädchens, zu dem trotz der erotischen Spannung kaum Blickkontakt aufkommt, wie eine Variante des eigenen, ausufernden Ich. Dabei liegen Welten zwischen den Generationen. Aus der Zeit, wo zum wohl letzten Mal eine Jugend "sich für die Ewigkeit interessierte" und ihren revolutionären Spießrutenlauf gegen die Monotonie einer Wohlstandsgesellschaft antrat, sind praktisch nur die schwarzen Ledersitze des DS übriggeblieben. Der Rest ist kalter Kaffee mit der widerlichen Erinnerung an aufgequollene Kippen in trüber Zigarettenbrühe nach durchdiskutierter Nacht.