Roman von Dinçer Güçyeter : Überall den Buckel mit hingetragen
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Die beiden Protagonisten von „Unser Deutschlandmärchen“: Fatma und Dinçer Güçyeter, aufgenommen 2022 Bild: Studio Özgür
Aus dem Schweigen Literatur gemacht: Dinçer Güçyeter hat mit „Unser Deutschlandmärchen“ ein großartiges Buch über das Leben seiner Familie als Gastarbeiter geschrieben.
Der sechzigste Jahrestag des Anwerbeabkommens vor zwei Jahren wurde mit zahlreichen Festakten begangen. Ehemalige Gastarbeiter der ersten Stunde, um die es bei all dem ja eigentlich gehen sollte und deren Erinnerungen man gern gehört hätte, waren auf den Bühnen jedoch nur selten zu erleben. Dort sprachen vor allem Kinder der ersten oder zweiten Einwanderergeneration. Sicherlich, die meisten Frauen und Männer, die von 1961 an aus der Türkei nach Deutschland kamen, kehrten dorthin zurück oder sind mittlerweile verstorben. Nur noch wenige haben einen deutschen Lebensmittelpunkt. An einige aber waren Einladungen gegangen. Nicht wenige lehnten sie ab. Nach all den Jahren, in denen es kaum Anerkennung für sie gab, wollten sie nicht ins Rampenlicht geholt werden. Andere fühlten sich ihm schlichtweg nicht gewachsen.
Beides ist wenig überraschend. Das Gefühl des nicht Genügens, nicht Könnens wird von vielen Migranten berichtet. Besonders verbreitet ist es in der älteren Generation. Gastarbeiter, das waren für die meisten Deutschen vor allem duldsame Arbeitskräfte. Als solche führten sie ein Leben am Rand, das ihre anfänglichen Hoffnungen und ihren Optimismus schnell aufzehrte. Das Schweigen über Erfahrungen, Bedürfnisse, Träume wurde ein Teil ihrer Identität – wie sollte es ihnen da möglich sein, plötzlich öffentlich über ihre Erinnerungen zu sprechen? Und so klaffte bei den Festivitäten oft eine Leerstelle, die mehr über die vertanen Chancen des Zusammenlebens aussagte als alle Reden im Jubiläumsjahr.
Allein vor diesem Hintergrund ist das Buch „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter, Jahrgang 1979, Dichter, Verleger und Gabelstaplerfahrer, der im vergangenen Jahr den Peter-Huchel-Preis für Lyrik bekommen hat, ein sehr großes Glück. Man beginnt zu lesen und hat schon auf den ersten Seiten das Gefühl, ein Buch in den Händen zu halten, das wie mit dem Skalpell durch die vielen Schichten der Einwanderungsgeschichte fährt und in bisher unerzählte Tiefen vordringt.
Über das migrantische Erleben und den schwierigen Weg des Ankommens, der oft jahrzehntelang dauerte, haben schon andere Autoren vor Güçyeter geschrieben. Sein autobiographisch gefärbter Roman weist jedoch auch stilistisch übers Genre des Familienromans hinaus. Er enthält Kapitel, die wie Theaterszenen aufgebaut sind, außerdem Gedichte, Gebete sowie Prosaminiaturen mit ständigen Perspektivwechseln. Mal spricht ein Icherzähler aus der zweiten Generation, dann kommen Menschen, die ihr vorangegangen sind, zu Wort. In Güçyeters Familie und Bekanntenkreis sind es vor allem Frauen, die sich im Schweigen einrichten und still aufgeben, um die Erwartungen der deutschen Arbeitgeber und ihres türkischen Umfelds zu erfüllen. Ihr Ziel: den Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen. Güçyeter dreht die Stimmen dieser Frauen wieder auf laut und ermöglicht so Einblicke, die erhellend, bereichernd und berührend sind – bisweilen sind sie auch amüsant.
Zwiegespräch zwischen Sohn und Mutter
Es beginnt mit der Stimme von Hanife, Tochter der Nomadin Ayşe und von Ömer Bey, die nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes ihr anatolisches Dorf verlässt und in die Stadt zieht. Danach übernimmt Fatma, Hanifes Tochter, das Wort. Sie ist blutjung, als ihre Mutter sie im Jahr 1965 drängt, als Braut eines fremden Mannes nach Deutschland zu gehen, um ihren Brüdern den Weg dorthin zu ebnen. Fatmas Mann ist ein gutmütiger Träumer, dessen kurzsichtige Geschäftsideen schon bald nach der Ankunft des Paars in einem Dorf an der deutsch-holländischen Grenze in einen Schuldenberg münden.