Dieter Kühn: Das magische Auge : Stampft mein Werk ein
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Bild: S. Fischer
Dieter Kühns Lebensbilanz „Das magische Auge“ versucht sich an neuen Formen autobiographischen Schreibens. Der Leser nimmt Teil an einer Lebenswelt, deren Narration sich den Konventionen chronologischer Erzählung verweigert.
Wer die Lektüre von „Das magische Auge“ durchstehen will, muss sich auf einen Marathonlauf einstellen. Das autobiographische Mammutwerk schöpft aus einem riesigen Reservoir von Lebensstoffen, Erinnerungen, Assoziationen, die wie Treibgut im Bewusstsein des Autors anschwemmen. Hier folgt Dieter Kühns Schreiben dem Leitbild einer „symbiotischen Autobiographie“, die sich dem Gesetz der Chronologie verweigert und der Diskontinuität Rechnung trägt, mit der Erinnerungen wiederauftauchen.
Dennoch sind zunächst einige biographische Daten festzuhalten. Der 1935 in Köln geborene Sohn eines im Bankfach arbeitenden Vaters und einer Mutter, die einer Familie mit jüdischem Einschlag entstammte, begann seine literarische Laufbahn mit Hörspielen in jener Zeit, als in den Rundfunkanstalten Experimente mit der Form überwogen. Von seinem Großonkel Friedrich von der Leyen, dem germanistischen Mediävisten, von dessen völkisch-nationaler und sogar antisemitischer Frühzeit Kühn erst durch Karl Otto Conradys Untersuchung erfuhr, „erbte“ er wohl ein besonderes Interesse für das Mittelalter. So wurden seine Biographie eines Sängers, „Ich Wolkenstein“ (1977), seine Rahmenbiographie „Herr Neithart“ (1981) und seine Übersetzungen von Gottfried von Straßburgs „Tristan und Isolde“ (1991) und des „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach“ (1994) zu durchschlagenden Erfolgen. Seiner Bonner Doktorarbeit über Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ und dessen „Möglichkeitssinn“ verdankt Kühn wohl die Anregung zu Alternativentwürfen der Biographie Napoleons in „N“ (1970).
Prägende Freundschaft mit Heinrich Böll
Den Gedanken der virtuellen Geschichte nimmt Kühn in seinem „Lebensbuch“ wieder auf mit der Frage: „Verkürzte de Gaulle den Krieg?“ Schon bei Herodot ließen sich Vorformen eine „virtuellen“ Geschichtsschreibung entdecken. Unter dem Stichwort „Heinsberg“ imaginiert Kühn eine alternative Biographie, durch die er zwar sich ähnlich, aber nicht mehr mit sich identisch geblieben wäre.
Andererseits bleibt Kühn auf dem Boden realer Vorgänge seiner lebensgeschichtlichen und schriftstellerischen Entwicklung. Als eine kopernikanische Lesewende hat er den ersten Band von Hans Benders und Walter Höllerers „Akzenten“ erlebt. Für sein Leben prägend geblieben ist seine Freundschaft mit Heinrich Böll. Realpolitisch wirksam zu werden, versuchte er während seiner Zeit in Düren als Stadtverordneter. In die Klause eines Poeten der Innerlichkeit hat sich Kühn nie zurückgezogen.
Gott als großer Musiker
Zu den Versuchen, neue Formen autobiographischen Schreibens zu entwickeln, gehört auch Kühns Rückgriff auf das System der „Ars magna combinatoria“, mit dem sich der spanische Höfling und Troubadour Ramón Llull um 1300 neue Einsichten in die Ordnung der von Gott geschaffenen Welt verschaffen wollte. An die Stelle dieses chiffrenreichen Systems setzt Kühn nun eine dem eigenen Bedürfnis entsprechende Spielart: „Statt theologischem Kosmos ein Ich-Containment“. Dieses neue System kann hier in seiner ganzen Kompliziertheit nicht erläutert werden - es ist ohnehin zu ambitiös.
Halten wir uns besser an drei ausgewählte „Sequenzen“ (so Kühns eigener Begriff) in diesem „Lebensbuch“, zunächst an die Sequenz „Sphären und Galaxien“. Bei seinen Studien zum Mittelalter und seinen Vorarbeiten zur Übertragung mittelalterlicher Dichtungen in ein poetisches Neuhochdeutsch stieß Kühn auch auf die Gestalt Hermanns von Reichenau. Der Sohn eines schwäbischen Adligen ist bekannt geworden unter dem Namen „Hermann der Lahme“. Der Schwerbehinderte wurde zu einem berühmten Mathematiker, Astronomen und Musiker. Noch dachte man sich die Erde überwölbt von Kristallschalen, an denen jeweils ein Planet fixiert war, die Fixsterne an der äußersten Hohlkugel - der Platz darüber blieb Gott vorbehalten. Da er die harmonische und „übersichtliche Ordnung im Raum von Sonne und Planeten“ verbürgte, war Gott zugleich der Große Musiker („archimusicus“).