: Die Selbstmord-Brüder
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Alexander Nitzberg, der zweisprachige Dichter und Übersetzer, unternimmt es, die spezifischen Kunstmittel der russischen Poesie im Deutschen wiederzugeben. Die überraschenden Reime, mit denen er aufwartet, und die für die russische Poesie typischen lautsemantischen Operationen verleihen seinen Übersetzungen einen frischen Ton, der sich weiter von den Konventionen der deutschen Dichtersprache entfernt, als es bei den meisten deutschen Übersetzern der Fall ist. Nicht umsonst hat er seine Anthologie Peter Rühmkorf gewidmet - "vom anderen Ende des Hochseils".
Noch entschieden weiter geht in diese Richtung Oskar Pastior mit seinen Übersetzungen und Texten zu Velimir Chlebnikow. Chlebnikow gehört zu den größten Erfindern im Bereich des dichterischen Wortes. Auf allen Ebenen der Sprache - Lexik, Wortbildung, Phonetik, Syntax - experimentierend, schuf er seine neue "Sternensprache", die der Leser oder Hörer nur in unbestimmten Assoziationen aufnehmen kann. Seine Wortumbildungen (Paronomasien), Wurzelflexionen, Krebsgedichte (Palindrome) wie auch seine Rückgriffe auf heidnisch-slawische Mythologie und seine historischen Zahlenspekulationen haben seinerzeit die Dichter der Avantgarde angestachelt. Hierzulande wurden sie, dank der 1972 von Peter Urban initiierten Werkausgabe, zu einem Impuls neoavantgardistischer Strömungen. Oskar Pastior hat seine damals beigesteuerten Übersetzungen in einem gesonderten Bändchen mit einigen Begleittexten und einer CD mit eigenen Deklamationen jetzt neu vorgelegt.
Aber sind es Übersetzungen? Den Wortlaut der poetischen Mitteilung zu übersetzen wäre sinnlos, denn sie ist lediglich das Ergebnis der Anwendung eines experimentellen Verfahrens. Also: das Verfahren mit deutschem Sprachmaterial durchspielen? Dann ergäbe sich ein Zieltext, dessen Bedeutung mit der des Ausgangstextes nichts mehr gemein hätte. Pastior versucht, zwischen dichterischem Verfahren und Sekundärsemantik zu vermitteln. Die Ergebnisse klingen im Deutschen, nicht anders als im Russischen, absonderlich genug. Die Verse über den "Grashüpfer" enden wie folgt: "tschiribombös profelurte kikieglitz / o schwansam / teich auf!"
Die Anthologie "Sternensalz", herausgegeben und kommentiert von dem Berner Slawisten Ulrich Schmid, ist thematisch gegliedert. Von poetologischen Gedichten über Bilder der russischen Heimat und Liebeskonstruktionen bis hin zu Gottvertrauen und Gottverlassenheit reicht die Spanne der Themen, die in Gedichten von verschiedenen Übersetzern präsentiert werden. So reizvoll es dem Anthologisten erscheinen mag, die besten Gedichte in den besten Übersetzungen zu versammeln, er handelt sich damit eine gewisse Disparatheit der Übersetzersprache ein. Rilke steht neben Enzensberger, Hans Baumann neben Rolf-Dieter Keil, Ludolf Müller neben Hugo Huppert, Paul Celan neben Ralph Dutli. Lesbar und aufschlußreich indes sind alle der angebotenen Gedichte. Und gut ausgewählt.
Ulrich Schmid begründet sein Konzept in der Einleitung mit der "idealtypischen Gleichzeitigkeit" der russischen Lyrik. Die Gedichte Puschkins etwa überraschten durch ihre Modernität nicht weniger als die Mandelstams durch ihre klassische Form. Immer wieder hätten russische Dichter den Gedanken einer literarischen Evolution abgelehnt und sich der Subsumierung unter einen "Ismus" widersetzt. Ahistorizität bilde ein wichtiges Element des Selbstverständnisses der russischen Poesie. Hinzu komme die enorme Wertschätzung der Poesie in Rußland, ihr Primat vor der "verachteten Prosa". Solche Überlegungen sind bedenkenswert und nicht nur apologetisch im Hinblick auf das anthologische Unterfangen. Aber sind sie überhaupt nötig? Vielgestalt und Gedankentiefe der russischen Poesie werden in diesem Band glücklicherweise ahnbar, auch wenn der volle Klang der russischen Verse nicht überall zu vernehmen ist.
REINHARD LAUER
Karl Dedecius: "Mein Rußland in Gedichten". Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2003. 272 S., br., 10,- [Euro].
"Selbstmörder-Zirkus". Russische Gedichte der Moderne. Herausgegeben und übersetzt von Alexander Nitzberg. Verlag Reclam Leipzig, Leipzig 2003. 190 S., br., 8,90 [Euro].
"Rußland lesen". Herausgegeben von Swetlana Geier. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 6 Bde., Kass., zus. 39,90 [Euro].
Oskar Pastior: "Mein Chlebnikov". Deutsch/russisch. Urs Engeler, Basel/Weil am Rhein 2003. 64 S., CD-Audio, geb., 24,- [Euro].