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: Der Schamane Albaniens

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In einem "Kapitel ohne Nummer" bildet sich Ismail Kadares Roman "Der General der toten Armee" in sich selbst ab. Und er tut es in Form eines Märchens: "Es war einmal ein General und ein Priester, die auszogen, um ihr Kismet zu suchen. Nein, eigentlich suchten sie nicht ihr Kismet, sondern das, was von den Soldaten ihres Landes übrig war, die in einem großen Krieg den Tod gefunden hatten.

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          In einem "Kapitel ohne Nummer" bildet sich Ismail Kadares Roman "Der General der toten Armee" in sich selbst ab. Und er tut es in Form eines Märchens: "Es war einmal ein General und ein Priester, die auszogen, um ihr Kismet zu suchen. Nein, eigentlich suchten sie nicht ihr Kismet, sondern das, was von den Soldaten ihres Landes übrig war, die in einem großen Krieg den Tod gefunden hatten. So wanderten sie und wanderten, bezwangen hohe Berge und weite Ebenen, immer auf der Suche nach den sterblichen Überresten dieser Soldaten. Das Land war rauh und schlimm. Ständig blies ein heftiger Wind, und der Regen wollte niemals aufhören. Aber sie verloren nicht den Mut, sondern zogen immer weiter, sammelten und sammelten, und wenn sie genug gesammelt hatten, kehrten sie heim und zählten. Aber jedesmal merkten sie beim Zählen, daß noch viele Knochen fehlten."

          Die märchenhafte, zugleich kindliche, alte und pointierte Zusammenfassung bringt eine Geschichte auf den Punkt, die das Buch selbst mit kunstvoller Disziplinlosigkeit in die suggestiven, traumhaften, unheimlichen und erotischen Topoi der Schauerromantik verstreut hat. Denn es geht in diesem eigenartig in sich kreisenden, immer wieder neu ansetzenden und seine Motive variierenden Roman tatsächlich um die Exhumierung, Katalogisierung, Heimführung einer toten Invasionsarmee. Die Erde Albaniens soll die Leichen der ehemaligen Feinde wieder herausgeben, damit sie in ihrer Heimat überm Meer bestattet werden können.

          Zugleich aber werden in Kadares "Der General der toten Armee" die Tristesse von herbstlichen Provinzhotels im Ostblock geschildert, das Liebesleiden eines Obersten, der sich in eine junge Albanerin verliebt, die jeden Abend ins Stadion von Tirana kommt, um dort ihrem Freund beim Fußballtraining zuzusehen. Es geht um den Fluch, den die Mutter des Bräutigams auf einer Hochzeit ausstößt, um die Liebesgeschichte eines Kriegsgefangenen und um die plötzliche Einheitsfront der vielfach zerstrittenen und von Blutrache entzweiten Albaner im Zweiten Weltkrieg.

          Es geht um ein Bordell, das die Invasionsstreitmacht in einem der kleinen, gottverlassenen Orte betreibt, und um die Schicksale der jungen Menschen, die sich hier flüchtig und gleichsam abgewandten Gesichts begegnet sind: "Keine Ahnung, wohin es sie danach verschlagen hat, vermutlich in ein abgelegenes Nest, wo die Truppen, wenn sie an die Front gingen oder von dort zurückkamen, für eine Nacht haltmachten. Und wahrscheinlich war ihr Dasein auch dort bestimmt von langen Schlangen dreckverschmierter Soldaten, die allen Schmerz und Schmutz des Krieges bei ihnen abluden." Es geht um die Berge, um Tirana im November, um das Meer und immer wieder um den Wind, der in diesem Land immer zu wehen scheint: "Der Wind heult Tag und Nacht. Die ganze Welt scheint nur noch aus Wind zu bestehen."

          Die Toten wehren sich

          So kunstvoll aber sich die Welt dieses Romans aus der Verfugung dieser Motive aufbaut, ist die mühsame, immer wieder verunglückende, eigentlich unmögliche und schließlich mißlingende bürokratische Wiederauferstehung der Toten das Thema und die Arbeit, zu dem seine Figuren wie unter einem mythischen Zwang in jedem Kapitel wieder neu und aus immer wieder neuen Richtungen zurückkehren. Die Toten wehren sich zunächst gegen die Störung. Sie bieten die unzugängliche Berglandschaft zur Verteidigung ihrer Ruhe auf, den Herbst, den Regen, jenen unaufhörlich wehenden Wind, die Hoffnungslosigkeit, den Schlamm, die Tristesse.

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