Dževad Karahasans neuer Roman : Diese Hölle nimmst du mit dir, mein Freund!
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„Nein, dies ist keine Apologie“: Dževad Karahasan Bild: Isolde Ohlbaum/Laif
Der bosnische Autor Dževad Karahasan, der an diesem Mittwoch siebzig Jahre alt wird, beschenkt uns mit einem großartigen Roman: „Einübung ins Schweben“ erzählt von der Belagerung Sarajevos.
In seiner Dankesrede zum Goethe-Preis der Stadt Frankfurt sprach der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan 2020 über Erziehung, von „Institutionen, die uns helfen, zu funktionieren, und nicht, uns kennenzulernen und fortzuentwickeln“. Wohin eine solche pädagogische Vereinseitigung führt, macht der nächste Satz drastisch deutlich: „Ein Gigant des Verstands und emotionaler Zwerg ist nicht weniger monströs als jemand, der einen Elefantenfuß und einen Kaninchenkopf hat, nur dass man seine Monstrosität weniger sieht, weil sie tiefer liegt. Daher denke ich, die primäre Pflicht unserer Erzieher wäre, sich um die Balance des rationalen, emotionalen, körperlichen und transzendentalen Segments unseres Wesens zu kümmern.“
Karahasans Rede war, zumindest in dieser Passage, nicht frei von Zuversicht: Den Erziehern eine Pflicht aufzuerlegen, gar eine „primäre“, ist nur sinnvoll, wenn ihre Erfüllung nicht vollkommen illusorisch ist, und tatsächlich gibt es genügend Pädagogen, die sich zumindest bemühen, diese Balance als Ziel ihres Unterrichtens anzusehen. Wie es dagegen um einen überall dafür angesehenen „Giganten des Verstands“ steht, der im reifen Alter beginnt, an der Befreiung aus der emotionalen Verzwergung zu arbeiten, und dabei nicht auf pädagogische, sondern chemische Hilfe zurückgreift, erzählt Karahasan zwei Jahre später in seinem Roman „Einübung ins Schweben“, der dieser Tage auch auf Deutsch erschienen ist, und wählt dafür ausgesprochen glücklich eine Perspektive, die den Gegenstand aus der Nähe und zugleich in entscheidenden Passagen aus der Distanz schildert und zugleich die eigene Position deutlich markiert: Wir lesen, was der Übersetzer und Dichter Rajko aus seiner Heimatstadt Sarajevo und über den Aufenthalt des gefeierten walisischen Intellektuellen Peter Hurd berichtet, aber der gewiefte Autor sorgt dafür, dass wir uns jederzeit unseren eigenen Reim darauf machen können.
Als die Granaten einschlagen
Rajko empfängt seinen Besucher Hurd, mit dessen kulturhistorischem Werk er sich als Übersetzer schon lange beschäftigt hat, Anfang April 1992 zu einer Buchvorstellung in Sarajevo. Kurz darauf beginnen die Belagerung und der Beschuss der Stadt während der Jugoslawienkriege. Rajko will seinen Gast nun schnellstmöglich aus Sarajevo bringen, aber Peter, der auf Sizilien lebt, aber bereits in den Siebzigerjahren „oft und gern nach Jugoslawien gekommen war“, will bleiben. Er wirkt wie berauscht angesichts der Detonationen und der spürbaren Schwierigkeiten, vom Busbahnhof das Wohnviertel am Stadtrand zu erreichen, in dem Rajko im Haus seiner Mutter Ljuba wohnt. Und während der Bosnier den Beschluss seines Freundes mit den Worten „Welcome to hell“ quittiert, sieht er in dem, was um ihn herum vorgeht, nur eine große Schule des Lebens, die er entsprechend kommentiert. Müssen etwa Koffer zurückgelassen werden, die Ausreisewillige sorgfältig gepackt und mühsam zum Bus bewegt haben, jauchzt Peter: „Das ist gut! Wie schnell fällt alles Überschüssige von einem ab.“
Große Empathie zeigt er mit niemandem, sein Eifer, die Seele zu erforschen, richtet sich ganz auf die eigene, und man sieht die ratlosen Blicke der Umgebung geradezu vor sich, die sich auf den Gast aus dem Westen richten, der nüchtern von den entsetzlichen Dingen berichtet, die er auf den Straßen erlebt hat. Da geht ein Erwachsener mit einer Reihe von Kindern zum Bäcker, eine Granate schlägt ein, die jedes der Kinder zerfetzt, woraufhin sich ihr Begleiter in seinem Schmerz die Pulsadern aufbeißt – und Peter erzählt davon wie ein Naturforscher.
„Nein, dies ist keine Apologie“, so fängt Rajkos Bericht an, „Peter Hurd bedarf meiner Verteidigung nicht, denn sein Werk, sein würdevolles Leben und sein Platz in der europäischen Kultur verteidigen ihn überzeugend genug.“ Verzweifelter könnte der Übersetzer, der im Verlauf des Romans zum Gastwirt, Opfer und schließlich zum Pfleger jenes Gelehrten wird, gar nicht beginnen. So zeichnet der Autor im selben Moment, in dem sein Erzähler ein Bild seines Freundes entwirft, ein Bild ebendieses Erzählers.
Jenseits der Moral?
Wie Karahasan einst selbst und ungefähr im selben Alter ist Rajko ein liebender Bewohner Sarajevos. Seine Erinnerungen an die Stadt sind an deren Bewohner geknüpft, von einzelnen Häusern, Vierteln oder Straßenzügen erfahren wir in diesem Buch nicht viel (in anderen des Autors dafür umso mehr), mit Ausnahme von Rajkos Elternhaus, in dessen Dachgeschoss er nun mit Peter lebt. Er macht den Fremden mit seinen Freunden bekannt und führt lange Gespräche mit dem Gelehrten, der im Bombenhagel über den Wert von „Krisenzuständen“ schwadroniert, in denen sich der zum Äußersten herausgeforderte Mensch endlich selbst erkennen könne.
Ihm selbst fällt es offenbar leicht, sich im Elend der Stadt, in der es an Brot, Wasser, Medizin und Strom mangelt, zu versorgen, und für den Zorn, den er mit seinem Gehabe nicht nur bei Rajkos Mutter erregt, fehlt ihm das Sensorium. „Wie soll man sich in einer Zeit verhalten, die nach dem Zusammenbruch einer Ordnung eintritt, wenn in der Gemeinschaft allgemeiner Diebstahl herrscht“, fragt der Erzähler einmal, aber Peter, der sich jenseits der Moral stehend glaubt, bietet ihm in diesem Punkt keine Orientierung. Er kommt immer seltener in seine Unterkunft, verwahrlost und experimentiert mit Drogen, an denen in der belagerten Stadt kein Mangel herrscht – westliche Soldaten, die eigentlich das Schlimmste verhindern sollen, sorgen für Nachschub.
Berauscht von der Abwesenheit von Regeln
Karahasan, der an diesem Mittwoch seinen siebzigsten Geburtstag feiert, hat seine Erinnerungen an die von ihm miterlebte Belagerung Sarajevos bereits in seinem eindrucksvollen „Tagebuch der Übersiedlung“ geschildert, das sich mit seinem neuen Roman in vielem berührt. Beide Bücher schildern, was ein solcher Einbruch des Grauenhaften in einer Gemeinschaft anrichtet, in jedem Einzelnen. Karahasan blickt auf Alte und Junge, Resignierte und Erregte, auf diejenigen, die sich um Haltung bemühen, und jene, die wie die Romanfigur Peter berauscht sind von der Abwesenheit von Regeln, die in der äußersten Bedrohung und der Erosion von Zivilisation die eigene Freiheit wittern – mit entsetzlichen Folgen für die anderen und für sich selbst.
Mehr als einmal wird das selbst dem geduldigen, immer zur Verehrung seines Besuchers bereiten Rajko zu viel: Er verspürt „den höllisch starken Wunsch, mein Vorbild und meinen Lehrer eigenhändig zu erwürgen“. So weit kommt es nicht, aber die damalige Begrüßung Peters auf dem Busbahnhof erweist sich nachträglich als wahr. Allerdings anders, als Rajko sein „Willkommen in der Hölle“ wohl gemeint hat. Denn Peter schafft sich auf seinem rückhaltlosen Selbsterfahrungstrip seine Hölle selbst, und die grässliche Schuld, die er auf sich lädt und die erst auf den letzten Seiten des Romans ganz offenbar wird, wird er nicht mehr los.
Der Autor aber zeichnet neben Rajko und Peter eine Reihe von Gestalten, Opfer der Verhältnisse und würdevolle Kämpfer für die Idee eines zivilen Lebens, die das, was der „geistige Riese“ mit großer Sicherheit vorbringt, in seiner Zwergenhaftigkeit entlarven. Und so reicht die Welt, von der dieser großartige Roman spricht, weit über die Grenzen Sarajevos hinaus.
Dževad Karahasan: „Einübung ins Schweben“. Roman. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 304 S., geb., 25,– €.