: Bruder, wo bist du?
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Im Januar 1945 flohen die Eltern von Hans-Ulrich Treichel zusammen mit ihrem damals sechzehn Monate alten erstgeborenen Sohn Günter vor den Truppen der Roten Armee aus Ostpreußen. Es war höchste Zeit. Sie hatten lange gezögert, den Hof in Rakowiec zu verlassen, und sich dem Treck nach Westen erst sehr spät angeschlossen, zu spät, wie sich zeigen sollte.
Im Januar 1945 flohen die Eltern von Hans-Ulrich Treichel zusammen mit ihrem damals sechzehn Monate alten erstgeborenen Sohn Günter vor den Truppen der Roten Armee aus Ostpreußen. Es war höchste Zeit. Sie hatten lange gezögert, den Hof in Rakowiec zu verlassen, und sich dem Treck nach Westen erst sehr spät angeschlossen, zu spät, wie sich zeigen sollte. Nach wenigen Tagen Fußmarsch stellten sich ihnen sowjetische Soldaten in den Weg. Treichels Vater gibt später zu Protokoll: "Die Situationen, in die wir dann kamen, lassen sich im einzelnen kaum schildern. Unser Leben war wiederholt bedroht, nur mit Mühe und Not entrannen wir dem Tod durch Erschießen. Aus einer solchen Situation heraus waren wir dann gezwungen, unter Zurücklassung unserer gesamten Habe und unseres Kindes, das auf einem Pferdewagen verblieb, zu flüchten, um uns vor dem Erschossenwerden zu retten."
Hans-Ulrich Treichel wurde erst 1952 in Versmold/Westfalen geboren. Was genau an jenem Januartag 1945 geschehen ist, an dem sein älterer Bruder, den er nie kennenlernen sollte, verlorenging, weiß er bis heute nicht. Mit seinen Eltern hat er nie über die Vertreibung gesprochen. Und die Akten, die seine Mutter ihm hinterlassen hat, geben darüber auch keine Auskunft. Sie belegen nur, daß die Eltern in den fünfziger Jahren den Suchdienst des Roten Kreuzes einschalteten. Der fand jedoch nur ein Findelkind mit der Nummer 2307, von dem Treichels Eltern meinten, es sei ihr vermißter Sohn. Doch trotz eines erbbiologischen und anthropologischen Gutachtens konnte kein Nachweis einer leiblichen Verwandtschaft erbracht werden. Günter blieb verschwunden. Und wurde zum Trauma einer vom Krieg und seinen Folgen gezeichneten Familie.
Dieses Trauma versuchte Hans-Ulrich Treichel schon mit der Erzählung "Der Verlorene" aufzuarbeiten, die 1998 erschien. Darin schreibt er aus Sicht eines "zu dick geratenen pubertierenden Knaben" namens Stephan, wie dessen Eltern ihm eines Tages offenbaren, daß der ältere Bruder, anders als bisher behauptet, nicht verhungert, sondern auf der Flucht verlorengegangen sei. Und kaum haben sie ihr Gewissen erleichtert, setzen die Eltern alles daran, den Verlorenen zu finden, während Stephan alles daransetzt, daß der Verlorene verloren bleibt. Würden sie seinen Bruder nämlich finden, wäre Stephan nicht länger der alleinige Ersatzsohn, die ungehorsame, regelmäßig in die schwarze Limousine kotzende Neuauflage. Er wäre überflüssig und damit - wenn auch auf andere Weise - verloren.
In dieser ernsten und zugleich wahnsinnig komischen Erzählung stimmt alles, vom ersten bis zum letzten Satz. Von der kindlichen, boshaften Perspektive, über die präzisen, sich ständig wiederholenden Wortschöpfungen bis hin zum doppeldeutigen Titel. "Der Verlorene" ist, was ein Text im Idealfall sein sollte: ein kunstvolles, dichtes Gewebe, das an keiner Stelle aufreißt.
Mit den funkelnden, spöttischen, süchtig machenden Sätzen, die in den besten, den bösesten Momenten an Thomas Bernhard erinnern, mit einem entlarvenden und hinterhältigen Blick auf die Welt und Monty-Python-haftem Humor gelang Treichel nach drei Gedichtbänden und dem Kurzgeschichtenband "Heimatkunde" endlich der nationale und internationale Durchbruch. "Der Verlorene" war die Geschichte einer ostwestfälischen Kindheit im Schatten von Adenauer und Wirtschaftswunder, eines armamputierten, strengen Vaters und eines abwesenden und darum ständig präsenten Überbruders. Es geht darin um das alte Thema der deutschen Nachkriegsliteratur, um Schuld und Schweigen und die Ausstrahlung des Nationalsozialismus auf die junge Bundesrepublik - lange Zeit das einzige Thema, das auch im Ausland wahrgenommen wurde. Und so ist es kein Zufall, daß Hans-Ulrich Treichels Erzählung neben Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" gleich nach Erscheinen in den Schulkanon aufgenommen wurde und auch weltweit große Beachtung fand. Ein angemessener Erfolg, von dem die nachfolgenden Werke profitierten. Die Germanistengroteske "Tristanakkord" bekam zahlreiche Auszeichnungen, und für den "Irdischen Amor" erhielt Treichel, dessen Bücher in insgesamt sechsundzwanzig Sprachen übersetzt wurden, 2003 in China den Preis des besten ausländischen Romans.