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Arno Geiger: Alles über Sally : Erst Dauer gibt dem Abenteuer Ehe einen seriösen Anstrich

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Bild: Verlag

Mit „Es geht uns gut“ gewann er 2005 den Deutschen Buchpreis, jetzt ist sein neuer Roman erschienen: „Alles über Sally“. Der Österreicher Arno Geiger erzählt die Geschichte einer Ehe in Zeiten der Lebensabschnittspartnerschaften.

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          In Abwandlung des berühmten ersten Satzes von Tolstois „Anna Karenina“ könnte man nach der Lektüre von Arno Geigers neuem Roman sagen: „Alle jungen Beziehungen gleichen einander, jede lange Beziehung dauert an auf ihre Weise.“

          Dass Alfred und Sally seit dreißig Jahren verheiratet sind, liegt nicht an Sally. Anders als ihr Mann ist sie oft unsicher, ob dieses Leben, dieser Gefährte, diese Kinder ihr wirklich entsprechen. Daran sind aber weniger die spezifischen Umständen, weniger Heim, Mann, Kinder oder Beruf schuld als sie selbst. Die Unruhe, der Zweifel und das Suchende liegen in Sallys Natur: „Sie wandelte sich ständig, es geschah unter dem Eindruck von Erfahrungen, Orten, Lebenseinschnitten und Menschen, die ihr nahe kamen.“ Das sind, nicht immer, aber immer mal wieder, auch andere Männer, wobei Sally nicht sehr wählerisch ist. Seit Jugendtagen kommt es ihr weniger auf das Objekt der Begierde an als auf die Begierde selbst. Wie ihre Gewährsautorin Mary McCarthy einmal sagte: „Es würde nichts bringen, sich zu verlieben, wenn man unberührt so bliebe, wie man war.“

          Dem Charakter nach stetig

          „Alles über Sally“ heißt der fünfte und neue Roman des Österreichers Arno Geiger, der an diesem Wochenende erscheint. Nach der Familiengeschichte „Es geht uns gut“, für die er 2005 mit dem ersten Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, und dem Erzählungsband „Anna nicht vergessen“ (2007) durfte man gespannt sein, worauf dieser mit selbst für seinen Berufsstand ungewöhnlicher Empathie ausgestattete Beobachter seine Aufmerksamkeit als nächstes richten würde. „Alles über Sally“ ist die Geschichte einer Ehe, oder vielmehr: das Porträt einer Frau von zweiundfünfzig Jahren. Sally Fink ist Ehefrau, Mutter von drei dem Alter nach einigermaßen erwachsenen Kindern und Lehrerin an einem Wiener Lyzeum. Und in jenem Sommer des Jahres 2008, in dem das Buch spielt, wird sie außerdem noch zur Geliebten von Erik, dem Mann ihrer Freundin Nadja und guten Bekannten von Alfred.

          Aber Sally ist keine Verwandte von Emma Bovary, Anna Karenina oder Effi Briest. Als emanzipierte erwachsene Frau ist sie nicht erst seit kurzem der Auffassung, dass, wer sich selbst treu bleiben will, dabei nicht immer auch noch einem anderen die Treue halten kann. „Sowohl emotional als auch sexuell an ein bestimmtes Gegenüber gebunden zu sein, hält sie für unrealistisch und eine Erfindung von alten Männern.“ Was nicht heißt, dass sie, wann immer sie dieser Überzeugung verliebte Gedanken und Taten folgen lässt, so rücksichtslos wäre, dies ihrem Mann auch noch mitzuteilen. Sally ist weder mannstoll noch unglücklich über das Leben, das sie führt. Was sie vertritt, ist ein Recht auf Neugier – in friedlichen Maßen, wie sie ihre Schüler wissen lässt: „Ein Held sollte das Leben genießen, aber beim Genießen die Möglichkeiten der anderen nicht beschneiden.“ Für Sally verläuft das Leben in Wellen, mal ist man obenauf, mal unten. Diese verlässlichen Schwankungen gelten auch für die Gefühlsstärke ihrer Ehe: Sie würde Alfred „bald wieder lieben, so wie sie ihn am Anfang geliebt hatte und später auch immer wieder, nur jetzt nicht, da konnte sie ihm nichts vormachen“. Nein, an Sally ist wahrlich keine Emma Bovary verlorengegangen. Die Rolle der tragischen Figur hat sich schon Alfred auserkoren, der im übrigen manche Ähnlichkeit mit Charles Bovary aufweist.

          Das Älteste an Sally ist ihr Mann, der trotz seiner siebenundfünfzig bereits etwas Gebrechliches ausstrahlt. Während seine Frau körperlich wie geistig einen ständigen Kampf gegen die Schwerkraft der Verhältnisse führt, ist Alfred nicht nur in seinem Beruf als Kurator am Wiener Völkerkundlichen Museum dem Bewahren verpflichtet: Er „mochte es, wenn Dinge eine bestimmte Bedeutung hatten, er fand es verlockend, wenn ihm etwas vertraut war oder zur Gewohnheit wurde; und natürlich kroch das ins Liebesleben. Fürs Unerwartete war er überhaupt nicht mehr gerüstet.“ Alfred ist seinem Charakter nach stetig, und stetig ist auch die Liebe zu seiner Frau. Noch nach dreißig Jahren folgt ihr sein besitzstolzer Blick bei beiläufigsten Verrichtungen, etwa im Badezimmer, „und es kommt ihm noch immer wie ein Wunder vor, dass er sie in diesen alltäglichen Momenten nackt sehen darf, ohne ihr Misstrauen zu erregen“. Sie aber irritiert die Bedeutung, die ihr Mann dem domestizierten Miteinander beimisst, so wie seine ganze „Mischung aus Ichbezogenheit und Behaglichkeit“: „Wenn man Sally fragte, saß nicht nur Alfred hinterm Ofen, sondern auch seine Gefühle, seine Gefühle waren Stubenhocker.“

          Ansteckende Liebe

          Ein Einbruch in ihrem Haus bringt Alfreds Kartenhauswelt zum Einsturz und das stets randnah brodelnde Lebensfass Sallys zum Überlaufen. Geradezu novellistisch setzt Geigers Roman mit dieser unerhörten Begebenheit ein, wegen der Alfred und Sally ihre Sommerferien in England abbrechen und zurück nach Wien fliegen müssen, wo der Roman in einen gemächlicheren Erzählstrom übergeht. Während Sally die neuerliche Widrigkeit des Schicksals mit Energieschüben kontert und sich im Ausgleich gewissermaßen legitimiert fühlt, mit einem Seitensprung ihr Ich zu stärken, ist der verletztliche Alfred erschüttert und wie gelähmt. Es sind weniger die gestohlenen Dinge, die ihm zu schaffen macht, als der Intimitätsverlust innerhalb seines Schneckenhauses. Und Sally fühlt sich von seiner „unterstützungsbedürftigen Gegenwart“ bedrängter denn je.

          Zu zeigen, was Paare zusammenhält, ist sehr viel schwieriger als zu erzählen, was sie trennt. Arno Geiger gelingt das glänzend. Still und unaufdringlich wie die alltäglichen Momente, in denen sich Paare einander mit einer kurzen Aufmerksamkeit, kleinen Fürsorglichkeiten versichern, sind auch seine Schilderungen. Während die immer gereiztere Sally jedes steckengebliebene Gespräch, jedes innere Kopfschütteln ihres Mannes bemerkt, zehrt der genügsame Alfred von den seltenen Momenten des Einlenkens: „Sie sind lange genug zusammen, dreißig Jahre, und weil diese dreißig Jahre in jedem Satz nachhallen, weiß Alfred, dass er in Sallys Antwort mit etwas gutem Willen eine Entschuldigung erkennen darf.“ Es ist offenkundig, dass Geiger seine Figuren liebt – was indes nicht heißt, dass er sie verklärt. Es ist vielmehr ein halb staunendes, halb forschendes Interesse an allen Regungen und Verhaltensweisen seines Paares, das den Roman vorantreibt – und das ansteckend wirkt.

          Der Ehebruch verleiht Sally und damit der Handlung innere Spannung, zumal immer weniger wahrscheinlich scheint, dass Alfred, dem schon Sallys frühere Eskapaden nicht verborgen geblieben sind, nun so gar nichts von ihrem neusten Verrat mitbekommt. Und auch, wenn Sally niemals daran denkt, Alfred zu verlassen, fürchtet man doch um ihn. Denn Alfred ist der stille Held dieses Romans. Gerade weil man ihn vor allem aus der ungerechten Perspektive Sallys wahrnimmt, ahnt man das Ausmaß seines Verdienstes um diese Beziehung. Kurz vor Schluss darf er dann in einer großen Litanei über die Ehe im allgemeinen und die mit Sally im besonderen, rührend, ungelenk und aufrichtig wie Alfred selbst, sein vielfach erprobtes Rezept für Treue verraten: hinsetzen, nachdenken und warten, bis die Versuchung vorbei ist.

          Plädoyer für die Dauer

          In diesen Szenen einer Ehe gibt es keinen besseren und keinen schlechteren Part, nur unterschiedliche Temperamente. Doch auch nach dreißig bestandenen Jahren winkt keine Sicherheit: „Alfreds Herz schlug schneller beim Blick in die Vergangenheit und füllte sich mit Furcht vor dem Unbekannten, wenn er in die Zukunft schaute. Sally indes fragte sich, was wäre, wenn Alfred plötzlich stürbe. Nicht dass sie ihm den Tod wünschte, einfach nur: was wäre wenn.“

          „Alles über Sally“ ist ein Plädoyer für die Dauer, die vielleicht unterschätzteste Errungenschaft einer schnellliebigen, surfenden und zappenden Gegenwart, eine anhaltende Herausforderung, bei welcher, mit Sally gesprochen, „der einfache Teil immer hinter dir, der schwierige immer vor dir“ liegt. Arno Geiger gelingt es, den Kitt der Intimität, eine sehr individuelle Mischung aus Wunsch und Verpflichtung, Freiwilligkeit und Zwang, gemeinsamer Vergangenheit und Zukunftssinn, in seiner ganzen Komplexität zu zeigen – und sich dabei jeglichen Urteils zu enthalten. Urteilen ist auch gar nicht nötig, wenn man einen Alfred als Gewährsmann hat. Liebe lieber lebenslänglich, sagt der, denn das Abenteuer des Sichkennenlernens hört nicht nur nicht auf, sondern es wird mit der Zeit immer lohnender.

          So sehr hat Geiger sich auf die beiden eingelassen, dass man stellenweise den Eindruck gewinnt, die Figuren und nicht der Autor hätten den Romanverlauf bestimmt. So ist das sechste Kapitel ein knapp siebzigseitiger Rückblick auf den Frühling 1977 in Kairo, wo Alfred und Sally sich kennenlernen – ein etwas langatmiger Einschub, dessen es weder zum Verständnis der Beziehung noch für die Dramaturgie der Handlung bedurft hätte. Dann gibt es eine ausführliche, stakkatohaft geschriebene Sexszene zwischen Alfred und Sally, die – im Gegensatz zu Alfreds Thrombosestrumpf, den er wegen seiner Krampfadern trägt – sicher nicht in die Literaturgeschichte eingehen wird: „Und er besaß eine ungeschickte Art, sich zu bewegen – sein Rhythmus war für sie – zu schnell, sie bevorzugte es – langsamer, intensiver und gleichzeitig – – härter. – Hhm. –“ Aber das sind Kleinigkeiten, die der Bewunderung für diesen klugen, bedenkenswerten Romans nichts anhaben können.

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