Arno Camenisch: Ustrinkata : Wo kein Schnee liegt, begräbt uns auch keine Lawine
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In der Schweiz ein Star, bei uns noch zu entdecken: Arno Camenisch geht in seiner Kneipengeschichte „Ustrinkata“ über Grenzen. Ein skurrile Weltuntergangsgeschichte.
Maßeinheit des Genießens: Was dem Württemberger sein „Viertele“, ist dem rätoromanischen Schweizer der „Quintin“, also das tägliche Fünftel Rot- oder Weißwein. Einen ersten Quintin genehmigt sich zu Beginn der jüngsten Erzählung des 1978 im rätoromanischen Örtchen Tavanasa geborenen Autors Arno Camenisch auch der Skilehrer Luis, der bei der Wirtin seiner Stammbeize aber sogleich einen zweiten ordert, denn in den Gläsern, hat er beobachtet, „ist in der letzten Zeit so wenig drin“. In Kürze werden sie ganz leer bleiben: „Ustrinkata“ heißt die Erzählung, zu hochdeutsch „Austrinken“. Am Ende des Abends und der Geschichte wird Schluss sein mit der Restauration „Helvezia“, die erst jüngst ihr hundertjähriges Bestehen feiern konnte. Jetzt steht das Anwesen zum Verkauf, die Besitzer, die wir nicht kennenlernen, „wollen halt Geld machen“, wie Otto, der hinkende Jäger, weiß.
Luis und Otto sind Stammtischbrüder, mit ihnen trinken, rauchen, räsonieren und schwadronieren bei der „Helvezia“-Derniere noch der Dorffriseur Alexi, die Dorfschöne Silvia, der „Postautochauffeur“ Romedi, der schwerhörige Gion Baretta und, als Pächterin des Lokals, natürlich „die Tante“. Ihr Neffe ist der namenlos und verborgen bleibende Erzähler dieses eidgenössischen Endspiels. Man darf in ihm das andere Ich des Autors vermuten und überdies annehmen, dass er sich in der ein einziges Mal auftretenden Figur des „als Indianer verkleideten“ und notorisch schweigenden Burschen namens Isidor einen Cameo-Auftritt gönnt. Initial und final geistert noch eine steinalte Großmutter durch den Schankraum und will wissen, ob denn heute schon jemand gestorben sei - und wenn ja, wer.
Mit Alkohol in die surreale Schwebe
„Ustrinkata“ ist eine skurrile Weltuntergangsgeschichte von großer Gelassenheit. Sie spielt im Januar, eigentlich sollte Hochbetrieb herrschen auf den Skipisten der graubündischen Talschaft Surselva. Doch seit Wochen gießt es in Strömen. Die Stammtischler befürchten Erdrutsch und Steinschlag, zudem droht der Vorderrhein stündlich über die Ufer zu treten und den Ort zu überfluten. Aber die Tante weiß einen Rat, der in seiner absurden Schlitzohrigkeit ganz unwiderlegbar ist: „Wo kein Schnee liegt“, sagt sie, „begräbt uns auch keine Lawine“ - und damit ist dieses Gefahrenthema erst einmal abgetan. Es gibt genug anderes, worüber man in der Folge nachgrübeln kann, bevorzugt über längst vergangene, dafür von wundersamen Anekdoten umrankte Dorfgeschichten. Also erinnert man sich aufs Neue der früh verstorbenen Friederike, eine veritable „Biuti Quiin“ mit einem „Blick wie ein Gebet“. Noch einmal die Runde macht die Moritat vom Lehrer Cristiani, den man unbedacht zusammen mit seinem letzten Monatslohn begraben hatte, noch einmal Revue passieren die einst nach Amerika ausgewanderten Bauern, die dort auf Kühe mit „Eutern wie Dudelsäcke“ stießen.
Ständig wird dabei nachgeschenkt - und mit dem anschwellenden Alkoholfluss gerät die Erzählung dann in eine surreale Schwebe. Mindestens auf jeder zweiten der hundert Buchseiten bekommt Luis einen weiteren Quintin, müsste am Ende der Erzählung also mehr als zehn Liter Wein intus haben und sicher im Koma liegen. Aber er redet ebenso unverändert und verständlich weiter wie Silvia, die einen „Caffefertic“ (Kaffee mit klarem Schnaps) nach dem anderen kippt, wie Otto, der einen „Kübel“ (eine Halbe) Bier nach dem anderen leert, oder wie die Tante, die ob ihres phänomenalen Kettenkonsums von Zigaretten der Marke „Mary Long“ eigentlich hochgradig nikotinvergiftet, mithin diskursunfähig sein müsste.