Junge amerikanische Literatur : Jede Bindung wird zum tödlichen Risiko
- -Aktualisiert am
„Schreibe nicht über das, was du schon kennst, schreibe über das, was du kennenlernen möchtest.“ Anthony Marra hat einen grandiosen Roman über den Krieg in Tschetschenien geschrieben. Bild: dpa
Wenn die Idee von Gemeinschaft zerfällt: Der junge Amerikaner Anthony Marra hat mit „Die niedrigen Himmel“ einen atemberaubenden Roman über das Leben unter den Bedingungen des Krieges geschrieben.
Kaum jemand in den Vereinigten Staaten hatte vor dem Bostoner Bomben-Attentat eine Vorstellung von Tschetschenien. Noch als man die Täter gefasst, benannt und als „Chechnyans“ identifiziert hatte, geisterten tagelang Gerüchte durchs Netz, zwei tschechische Brüder seien für den Terroranschlag an der amerikanischen Ostküste verantwortlich.
Der erst achtundzwanzigjährige Anthony Marra, ein Stanford-Absolvent, hat nun einen atemberaubend komplexen Roman über das Leben unter den Bedingungen des Krieges, der russischen Besatzung, des Terrors, der Flucht und Verschleppung von Zivilisten geschrieben. Er selbst gehörte einer kleinen Touristendelegation gleich nach dem offiziellen Ende des zweiten Bürgerkriegs an, hat Tschetschenien also selbst kurz bereist, allerdings nie dort gelebt. Die Grundlage seines Erzählens ist also Recherche.
Recherche aus Büchern wie jenen der ermordeten Journalistin Anna Politowskaja, die als Russin immer wieder kritisch über den Tschetschenien-Krieg berichtet hatte. Aber Marra hat auch medizinische Fachbücher gelesen, etwa über Amputationen in Notlazaretten oder darüber, dass man eine auf der Brust klaffende Wunde aus Ermangelung anderer Materialien auch mit Zahnseide nähen kann.
Geschichten aus unbekannten Sphären
Er hat weiterhin ein Buch namens „The Natashas: Inside the New global Sex Trade“ gelesen, um die leidvolle Flucht einer der Hauptfiguren seines Buches nach Rom und ihre anschließende Versklavung dort zu beschreiben. Aus diesen akribisch von Journalisten, Ärzten, Politikwissenschaftlern und Historikern zusammengetragenen Hintergründen hat Anthony Marra nun einen Roman geschmiedet, der mitreißend und eindrucksvoll konstruiert ist – das alles ohne autobiographische Verwobenheit mit seinem Gegenstand.
Über die eigene Familiengeschichte – vielen seiner amerikanischen Kollegen nach wie vor ein unversiegbarer Quell literarischer Inspiration – sagt Marra, diese sei denkbar unspektakulär gewesen. Als Sohn zweier glücklich verheirateter Wirtschaftsanwälte ohne nennenswerte Abgründe wollte er lieber aufs Erfinden von Geschichten in unbekannten Sphären setzen.
Man könnte dieses Statement auch als Beitrag zur deutschen Bürgerliteraturdebatte aufgreifen. Darin wurde kürzlich wieder einmal die Frage aufgeworfen, ob Autoren, deren Abstammung ins gediegene Milieu verweist, überhaupt realismusfähig seien. Ja nun, Anthony Marra, ist es ganz ohne Praktikum bei den Ärzten ohne Grenzen gelungen, die „Erfahrungsarmut“ seiner bürgerlichen Herkunft zu überwinden.
Die Idee von Gemeinschaft zerfällt
Eldár heißt das kleine Dorf irgendwo in Tschetschenien, um dessen Bewohner Marra seine Kriegserzählung kreisen lässt. Hier haben noch die lokalen Clans das Sagen, die sogenannten tejps, in denen Fragen von Loyalität und Zugehörigkeit geregelt werden. Doch, schreibt Marra, „nach einem Waffenstillstand, der zu gesetzlos war, um den Namen Frieden verdient zu haben, war der Krieg 1999 erneut ausgebrochen und hatte den Dorf-tejp in kleinere Loyalitätseinheiten ausfransen lassen, bis sich mit Ausnahme der Treue von Eltern zu ihren Kindern alles so abgenutzt hatte, dass es jederzeit brechen konnte“.