Neuer Roman von Amy Waldman : Unter den Ärmsten der Armen
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Ein Balanceakt zwischen den Kulturen: Junge Afghaninnen am Weltyogatag außerhalb von Kabul im Sommer 2020 Bild: dpa
Amy Waldman kennt Afghanistan aus eigenem Erleben. Ihr Roman „Das ferne Feuer“ zeigt ein Land, dem mit westlichen Vorstellungen nicht beizukommen ist.
Die amerikanische Journalistin Amy Waldman beschrieb vor zwanzig Jahren in einem Artikel für die „New York Times“ ihre Schwierigkeiten, in Afghanistan mit vollverschleierten Frauen ins Gespräch zu kommen. Sie selbst, die ihr Gesicht zeigte, wurde nach den Jahren der Taliban-Herrschaft angestarrt von Frauen wie Männern, als hätte man noch nie ein weibliches Antlitz erblickt. Diese Eindrücke haben sie nicht losgelassen.
Nach ihrem Romandebüt „Der amerikanische Architekt“ (F.A.Z. vom 4.Februar 2013), in dem sie virtuos durchspielte, gegen welchen Generalverdacht Muslime in Amerika nach dem 11. September 2001 zu kämpfen hatten, widmet sie sich in ihrem zweiten Roman abermals den Folgen jenes Terroranschlags: „Das ferne Feuer“ handelt von einer Studentin der medizinischen Anthropologie an der Universität Berkeley, die aus Gründen in ein Dorf reist, die sie mit vielen jungen Menschen aus dem Westen teilt – einmal kurz die Welt retten und nebenbei vielleicht Material für die Masterarbeit abstauben.
Die Kraft ihrer fünf Sinne
Ein wenig anders liegt der Fall aber doch. Die zweiundzwanzigjährige Parvin Schams ist in erster Generation Amerikanerin, ihre Eltern flohen aus Kabul und landeten, nicht sehr privilegiert, in Union City. Parvins Mutter ist, als die Geschichte einsetzt, unlängst verstorben und der Vater wenig angetan, als ihm seine Tochter eröffnet, sie wolle für mehrere Monate nach Afghanistan reisen. Auslöser dafür ist die Lektüre eines Buches. Der Augenarzt Gideon Crane, Ehebrecher und Honorarbetrüger, hat sich zur Buße seiner Schuld als Helfer nach Afghanistan begeben. Als ihm der Versuch misslingt, eine gebärende Frau zu retten, baut er als Wiedergutmachung eine Klinik in ihrem Dorf und schreibt ein Buch über seine Wohltätermission: „Mother Afghanistan“ wird ein Millionenseller, Crane ein humanitärer Star, seine Stiftung steinreich.
Parvin ist elektrisiert von Buch und Autor, es gelingt ihr, im Auftrag der Stiftung nach Afghanistan zu reisen, um den Fortschritt in der Bekämpfung der Müttersterblichkeit zu dokumentieren. Das Dorf, „ein idyllisches, von Ausländern unberührtes Fleckchen Erde“, lebt ohne die Segnungen der Moderne. Nur ein Haus verfügt über einen dieselbetriebenen Generator, fließendes Wasser gibt es nicht. Zurückgeworfen auf einfachste Lebensverhältnisse – Handy und Yogamatte entpuppen sich als überflüssig –, entdeckt Parvin die Kraft ihrer fünf Sinne und der Stille, die Abwesenheit von „Berieselung mit Neuigkeiten aus dem Leben anderer“, von Multitasking und Internet. „Das Dorf war wie von jeder Schrift reingewaschen. Welche Verwendung hätten die Dorfbewohner für Beschriftungen gehabt? Die meisten von ihnen konnten nicht lesen, und abgesehen davon brauchten sie keine derartigen Hinweise in einem Ort, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatten.“ Parvin dagegen entstammt einer Kultur, in der das Lesen „vielleicht das einzige angelernte Verhalten“ ist, „das so unwillkürlich wurde wie Atmen“.
Männliche Ärzte aufzusuchen ist ihnen verboten
Die unverschleierte Kalifornierin taucht ein in den zehrenden Alltag der Muslimas, in Eifersüchteleien, Streitereien, aber auch in Zuneigung und Fürsorge. Sie beginnt, Cranes Buch vorzulesen, spricht mit Zeitzeugen, und je mehr sie erfährt, desto klarer wird, dass darin so ziemlich alle Details falsch bis frei erfunden sind.