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Aus der F.A.Z.-Sachbuchbeilage : Der Übermensch auf Vortragsreise

Bild: Knaus

Sein Erfolg macht ihn unwiderstehlich, für sich selbst jedenfalls: Nassim Nicholas Taleb weiß, von welchen Prinzipien sich echte Siegertypen leiten lassen, Leute wie er. Doch wie viel Selbstlob verträgt ein Sachbuch?

          7 Min.

          Die Frage, warum dem Autor eines Sachbuches überhaupt Glauben geschenkt werden soll, ist nicht von der Hand zu weisen. Schließlich behaupten die einen dies, die anderen das Gegenteil. Ja, schlimmer noch, oft gibt es nicht einmal den Austausch von gegensätzlichen Argumenten, sondern ein Sachbuch steht einfach neben dem nächsten zum selben Thema. Das gilt besonders für Bücher, die singuläre Einsichten behaupten und insofern kaum andere Bücher neben sich dulden. Wenn also jemand sagt, er sehe etwas, was fast alle anderen nicht sehen, wie kann er da den Zweifel vermeiden, dass sie es darum nicht tun, weil es gar nicht da ist? Gibt es also Hinweise, aus denen sich Schlüsse ziehen lassen auf die Glaubwürdigkeit, von sagen wir: Nassim Nicholas Taleb?

          Jürgen Kaube
          Herausgeber.

          Taleb war Börsenhändler an der Wall Street, er hat an Derivaten offenbar sehr ordentlich verdient. Bekannt wurde er durch seine Prognose, das amerikanische Bankensystem werde kollabieren, durch die Wetten, die er auf die Finanzkrise von 2008 abgeschlossen hat und durch zwei Bücher zur Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse. Sein Werk „Der schwarze Schwan“, ein internationaler Bestseller, behandelte 2007 gängige Irrtümer im Umgang mit Ungewissheit.

          Steine haben keinen Lernbedarf

          Damit sind schon ein paar Gründe bezeichnet, die man haben könnte, einem weiteren Buch von Taleb Glauben zu schenken. Man könnte sie die amerikanischen Gründe nennen. Der Mann ist erfolgreich. Er gründet das Handeln, das ihm den Erfolg brachte, auf Gesichtspunkte, die er in seinen Büchern vertritt. Er kann rechnen und reden. Außerdem hat er viele Freunde, die ihm recht geben, in jedem Kapitel erwähnt er ein paar.

          Amerikanische Gründe sind das, weil es vermutlich keine Kultur gibt, die den Erfolg so ernst nimmt, so persönlich zurechnet und an ihn so weitreichende Schlussfolgerungen knüpft, wie die amerikanische. Der Typ von Sachbuch, den auch Taleb schreibt, ist ein Kind dieser Kultur. So unterschiedliche Autoren wie Dale Carnegie, Peter Drucker und Malcolm Gladwell gehören zu ihr, führen aber als erfolgreiche Autoren über den Erfolg nur eine schier endlose Liste dieses Genres an. Auch „Antifragilität“ handelt vom Erfolg und belegt seine Thesen ganz wesentlich durch den des Autors und durch seine Persönlichkeit, von der wir nur das Beste und jedenfalls das Kräftigste erfahren.

          Auf gut sechshundert Seiten plus Glossar und Bibliographie exemplifiziert Taleb einen vergleichsweise übersichtlichen Gedanken. Alle möglichen Gebilde und Handlungssysteme, so lautet er, physische, psychische und soziale, Körper also, Bewusstseine und Organisationen, aber auch ganze Gesellschaften profitieren von Störungen. Sie nicht vorherzusehen ist entschuldbar, sich zu verhalten, als erfolgten sie nie, ist es nicht. Denn an ihnen, den Irritationen, Konflikten, Infektionen und Schmerzen, lernen soziale Gebilde wie Individuen. Steine sind robust und haben darum keinen Lernbedarf. Den Verstand hingegen, zitiert Taleb Ovid, wecken Widrigkeiten, sofern ein Verstand da ist. Der Verstand wäre darum in der Terminologie, die sich Taleb ausgedacht hat, „antifragil“ zu nennen.

          Macht Hunger lernfähiger als Sättigung?

          Die Antifragilität ist für Taleb ein universelles Prinzip und kann praktisch durch alles, was erfolgreich ist, illustriert werden. Man höre besser hin, wenn etwas Hintergrundgeräusch da sei. Schmerzen erzeugen Gedächtnis. Revolutionen werden mit der Stärke der Repression wahrscheinlicher. Muskeln und Knochendichte, meint er, wachsen unter Belastung. Zurückweisung facht die Passion erst an. Die Leute fahren vorsichtiger, wenn es keine Straßenschilder gibt, wenn sie sich also gefährdet sehen. Verrisse machen ein Buch erst recht interessant.

          Und weil ein mal eins eins ist, möchte man mit Strindberg erwidern, und Analogie die höchste Form des Beweises, ist zwei mal zwei zwei. Es meldet sich Misstrauen. Sollte es denn möglich sein, dass der Erfolg - von Immunsystemen, Fitnesstrainern, Optionshändlern, Tieren, Liebhabern, Straßenverkehrsordnungen - stets und überall auf demselben Prinzip gründet? Oder anders gefragt: Wie informativ ist eine Beschreibung der Welt in praktischer Absicht, die aus allen Phänomenen dasselbe herausholt und für die Krebstherapien dasselbe beweisen, was auch aus Unternehmensberatung, sofern sie durch Taleb erfolgt, oder der Anschauung guter Köche hervorgeht?

          Talebs These läuft auf die Empfehlung hinaus, Schwierigkeiten zu schätzen, sofern sie sich überwinden lassen und jedenfalls nicht zerstörerisch sind. In diesem „sofern“ liegt ein Hund begraben; einer unter vielen, denn um im Bild zu bleiben, dieses Buch ist ein Hundefriedhof. „Die Not als Mutter der Erfindung“ oder „Voller Bauch studiert nicht gern“, nun gut. Aber wie leer darf der Bauch sein, um den, den er nicht drückt, an etwas anderes als Essen denken zu lassen? Macht Hunger also in jedem Fall lernfähiger als Sättigung?

          Woran zu erkennen wäre, ob eine Krise die Zusammenhänge stärkt, die ihr ausgesetzt sind, oder umbringt, das lässt Taleb offen. Zehn Prozent seines Vermögens, sagt er, soll man auf riskante Positionen setzen, neunzig auf absolut sichere - aber solche Sprüche haben nichts der Behauptung voraus, fünfzehn zu fünfundachtzig oder dreißig zu siebzig seien auch gute Aufteilungen. Oder nehmen wir die Bereitschaft, an Liebesschmerz zu wachsen. Mitunter kühlt auch Zurückweisung den Passionierten ab, was genauso wie sein Gegenteil, die umso stärkere Werbung, ein Lernen darstellt. Aus Talebs Regel folgt also gar nichts Bestimmtes, sie ist nur ein Sprichwort.

          Kamillentee, Hayek und ich

          Erfolgsbücher sind tatsächlich eine Art moderner Sprichwortliteratur. Die Ausnahmen von ihren Regeln drängen sich geradezu auf. Das Große, wird uns mitgeteilt, ist zum Scheitern verurteilt. Ja, genau, man sieht es an Google, der katholischen Kirche und den Vereinigten Staaten. „Das Unkonkrete lässt uns Menschen kalt.“ Darum haben Ideologien ja auch so wenig Leute politisch in Bewegung gesetzt. In kleinen Gemeinden gibt es keine Lobbyisten - ja, aber auch wenig Gegenwehr gegen den Volkszorn. Zentralisierte Macht korrumpiert - ja, aber sie macht lokale Selbstjustiz der Stärkeren unwahrscheinlich. Richterrecht würde weniger Fehler machen als die rigide Anwendung von Gesetzen - ja, aber weder sind Richter „Subsumtionsautomaten“, insofern herrscht sowieso Richterrecht, noch blieben die Gesichtspunkte des lokalen Urteilens selbst lokal, wenn sie den Weg durch die Instanzen gehen und Urteile verglichen werden.

          Man sieht in all diesen Fällen, dass die Erkenntnis mit solchen simplen Unterscheidungen groß/klein, zentral/föderal, Regel/Urteilskraft nicht vom Fleck kommt. Taleb merkt offenbar nicht, dass es zu jedem seiner Sprichworte ein Gegensprichwort gibt, das genauso gilt. Die Frage, wie es denn dazu hat kommen können, dass die vorteilhaften kleinen antifragilen Strukturen zugunsten großer fragiler (Staaten, Weltmärkte, Großunternehmen) aufgegeben wurden, stellt er erst gar nicht. Forschung, etwa zu den sozialen Vor- und Nachteilen von Größe, interessiert ihn wenig. Irrtümer, also Ignoranz gegenüber seinen eigenen Maximen, erklärt er durch die Dummheit der anderen. Er selbst, heißt das, lernt augenscheinlich nicht durch Widerstände. Man muss es darum einfach undurchdacht nennen, wenn Taleb einen Beleg nach dem anderen für die Allanwendbarkeit seiner „Philosophie“ auf den Tisch legt, ohne eine einzigen davon selbst einem gedanklichen oder empirischen Belastungstest auszusetzen. Das führt zu Behauptungen dieser Art: „Handwerker sind antifragiler als Kleinunternehmer, aber ein Rockstar ist natürlich grundsätzlich antifragiler als jeder Handwerker.“

          In Talebs Terminologie: Das Buch stresst zwar, ist aber nicht informativ. Womit wir bei einem weiteren Grund des Misstrauens sind. Denn am meisten stresst Taleb den Leser durch seine unglaubliche Aufgeblasenheit. Der Kröterich aus „Wind in den Weiden“ ist ein Mauerblümchen gegen ihn. Ständig renommiert er mit Wissen, das nichts zur Sache tut, unablässig teilt er mit, was er mag (Kamillentee, Hayek, sich selbst) und was er verachtet (einen bestimmten Typ von Bankern, raten Sie welchen - genau, die unsympathischen, oder Ökonomen, die ein Gesicht haben, in das er gern hineinschlagen würde undsoweiter).

          Neunzig Prozent Sicherheit, zehn Prozent Bibelkritik

          Er kann eine 115 Kilogramm-Hantel heben, er schöpft beim Schreiben „aus einer opaken Quelle in seinem Inneren, die immer neue Überraschungen hervorbringt“, er unterhält sich nie mit mittelmäßigen Leuten, er liest in Restaurants, wenn er allein ist, Cicero. Immer wieder beginnen Kapitel mit Wendungen wie „Ich werde nun den Mythos entlarven“. Oder es fallen Sätze wie „Ich reise auch immer wieder einmal im Stil von Seneca, also ohne Komfort.“ Wir haben es hier ganz zweifellos mit einem Übermenschen zu tun, dem Übermensch auf Vortragsreise.

          Die unbeschreibliche Angeberei Talebs damit, was er alles gelesen hat, nimmt unfreiwillig komische Züge an, wenn etwa der britische Premier William Gladstone dafür gelobt wird, nicht nur das beschränkte Farbvokabular Homers erkannt zu haben, sondern auch für einen ausgeglichenen Staatshaushalt gewesen zu sein, was beides etwas mit seinem antifragilen Charakter zu tun habe. Oder wenn Taleb behauptet, im Leben unserer Vorfahren habe es keine Chefs, keine Beamten, keine Routine gegeben - „das ganze Leben bestand aus zufälligen Stimuli“, es sei gefährlich, aber nie langweilig gewesen. Genau, darum hat Seneca ja den Begriff „taedium vitae“ erst im zwanzigsten Jahrhundert geprägt.

          Taleb denkt auch, dass früher der Einzelne bedeutungslos war, weswegen es keine Spannungen zwischen dem Individuum und den Interessen des Kollektivs gab. Er kann ja mal das Neue Testament lesen oder eine antike Tragödie seiner Wahl. Oder er lobt Spinoza dafür, sich vom Gläserschleifen ernährt zu haben - neunzig Prozent Sicherheit, zehn Prozent Bibelkritik -, das habe seine Philosophie „vor akademischer Korrumpierung“ geschützt, denn wer in Forschung und Lehre arbeite, lebe unter ständiger Angst und fortgesetztem Druck.

          Ein bisschen viel Blödsinn

          Mit dem Scharfsinn von Taleb ist es also mal mehr, mal weniger weit her. So findet er es töricht und Ausdruck einer „mentalen Behinderung“, gegen staatlich festlegte Güterpreise zu sein, wenn man gleichzeitig den Zentralbankzins akzeptiere - als wäre das Geld einfach nur eine weitere Ware, neben den anderen. Oder er behauptet, dass Ärzte ein Gesundheitsrisiko darstellen, weil sie exzessiv behandeln, was man daran erkenne, dass diejenigen mit den besten Ärzten auch nicht länger lebten als der Durchschnittsbürger. Mal abgesehen davon, dass in die Gesundheit mehr eingeht als der Zugang zu befähigten Medizinern, stimmt es einfach nicht, dass die Lebenserwartung der Oberschicht nur durchschnittlich ist.

          Das ist alles ein bisschen viel Blödsinn für jemanden, der ständig über die Wissenschaft, Intellektuelle, Akademiker höhnt, hochdekorierte Nullen, die in ihrem ganzen Leben noch keine Innovation zustande gebracht haben, wohingegen Taleb: Er befindet, was echte Unternehmer sind und was bloße Schauspieler. Er weiß, dass die Forschung im Unterschied zur Industrie nicht einen nützlichen Beitrag für die Menschheit nachweisen kann. Er hat den Schlüssel für praktisch jedes Lebensproblem in der Hand. Und wir haben an einem echten Großmaul kennengelernt, welchen Autoren man unbedingt misstrauen sollte: solchen, die keine Seite schreiben können, ohne für sich selbst und mit sich selbst Reklame zu machen.

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