Rezension: Sachbuch : Wieder Reform wagen
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Der Optimist Peter Glotz möchte die Hochschulen von der Kette des Staates lassen
"Reformgesinnung und Geld" verlangt der sozialdemokratische Arzt am Krankenbett der deutschen Universität. Noch nicht verrottet, sondern heilbar krank, sofern schnell gehandelt wird - mit dieser Diagnose, dramatisch, aber hoffnungsfroh, verbindet Peter Glotz einen therapeutischen Appell an alle: Politiker, Wissenschaftsbürokraten, Hochschullehrer, Studenten, Eltern. Seine Streitschrift geht mit ihnen hart ins Gericht. Die Debatte um den vielbeschworenen Standort Deutschland müsse sich endlich der Wissenschafts- und Bildungslandschaft zuwenden. Nur wenn sie blühe, floriere auch die Gesellschaft. Die Warnungen vor einer Überakademisierung hält er für gefährlich. Deshalb Schluß mit dem "leisen Rückzug des Staates aus der Finanzverantwortung für die Bildung". Wer nicht bereit ist, für die Universitäten mehr als bisher zu zahlen, sollte von Reformen schweigen, setzt Glotz dem wohlfeilen "Haushälterpopulismus" entgegen, der Effizienzsteigerung sagt, aber Finanzkürzung meint, und das als Reform ausgibt. Einen finanziellen Beitrag fordert er auch von Studenten und ihren Familien. Denn der Nulltarif sei unsozial geworden, und für andere Leistungen zahlt die Gesellschaft auch. "Wieso sind also Kindergartengebühren legitim, Studiengebühren illegitim?"
Ohne zusätzliches Geld keine Reform, doch Geld allein reicht nicht. Glotz fordert eine Erneuerung der deutschen Universität, und deshalb plädiert er entschieden für mehr Autonomie. Der Staat soll die Hochschulen von der Kette lassen und nur die Grundregeln festlegen. Von einer schnellen, von oben verordneten Totalreform hält Glotz nichts. Er wirbt für einen langen, aber entschlossen zu öffnenden Reformweg, auf dem Experimente auf Zeit erlaubt sind und Vielfalt erwünscht ist. Zwei Grundprinzipien will er auf diesem Weg bewahren oder wiederherstellen: Forschung und Lehre müssen verbunden bleiben, und die Universitäten müssen das Ideal einer Bildung durch Wissenschaft als ihren Lebenssinn wiederentdecken.
Viele werden sich bei dieser Streitschrift über vieles ärgern, und wenn es in Einzelheiten geht, gerät manches zufällig, schief oder auch falsch. Doch wer Reformen an den deutschen Hochschulen will, sollte das Buch lesen. Es regt auch dort an, wo es ärgert. Und es macht Mut. Denn Glotz ist Optimist. Mut macht er vor allem Studenten und Hochschullehrern, also denen, die sich immer aufs neue bemühen, mit der heutigen Situation an den deutschen Hochschulen zurechtzukommen, obwohl das ständig schwerer wird. Welche Leistungen dabei erzielt werden und unter welchen Bedingungen, wird außerhalb der Hochschulen selten zur Kenntnis genommen. Das ist ein wichtiger Grund, warum Reformer außerhalb der Universitäten meist aneinander vorbeireden. Josef Joffe hat es jüngst in der "Süddeutschen Zeitung" (9. März 1996) noch einmal, ins Absurde gesteigert, vorgeführt. Reformvorschläge von außen pflegen dort anzusetzen, wo man Fehler sieht. Erfolgversprechender dürfte es aber sein, zunächst einmal zu fragen, warum die Universitäten trotz allem immer noch das leisten, was sie leisten. Denn überraschend ist nicht, daß vieles im argen liegt, überraschen muß vielmehr, warum vieles immer noch klappt. Hier müßte angesetzt werden, um eine Reformallianz zustande zu bringen.
Dazu wären allerdings einige Voraussetzungen zu klären. Alle müßten sich endlich auf die veränderte Lebensplanung wachsender Teile der Studenten einstellen. Das Studium ist für viele keine klar abgegrenzte Lebensphase mehr. Studium und langgezogener Einstieg in den Beruf verschleifen sich, Studiensemester und biographische Semester fallen auseinander. Wer das nicht beachtet, kann aus den Statistiken über die Studienzeiten nur ein Versagen der Hochschulen und der Studenten herauslesen. Noch ignoriert die Gesellschaft diese neue Lebensführung, doch ihr Wegsehen wird sie ebensowenig durchhalten wie seinerzeit gegen die Lebensgemeinschaften ohne Trauschein. Der Vollzeitstudent als Normalfigur ist eine statistische Fiktion geworden, auf der sich keine Reform des Studiums zur Verkürzung der Studienzeiten aufbauen läßt. Bislang fehlt aber die Bereitschaft zum realistischen Blick.
Er würde auch enthüllen, wie unaufgeregt die vielen Studenten, die Lehrer werden wollten, auf den Zusammenbruch dieses staatlichen Arbeitsmarktes reagiert haben. Der von Glotz erneut als Verhaltensvorbild beschworene amerikanische Philosophieabsolvent als Tankwart ist längst deutsche Normalität. Zwar eröffnen deutsche Geisteswissenschaftler keine Tankstellen, aber sie haben still Abschied genommen von der Normalität der A-13-Stelle als Berufseinstieg. Sie satteln um auf das flexible Magisterexamen, das ihnen die Universitäten anbieten, ohne ein bestimmtes Berufsbild mitliefern zu können. Welche deutsche Berufsgruppe hat denn ähnlich klaglos den Verlust des traditionellen Arbeitsmarktes hingenommen und sich einfallsreich neue Bereiche erschlossen? An diesem Leistungswillen sollte anknüpfen, wer die Universitäten reformieren will.
Dazu müßte aber dem Wort Reform seine Unschuld zurückgegeben werden. Wenn der Staat Reform sagt, zählt an der Universität jeder nach, was ihm weggenommen oder zusätzlich aufgebürdet wird. Studienreform heißt dann, es soll billiger und schneller studiert werden, die Schritte zu einer Haushaltsautonomie der Universitäten beginnen mit Haushaltskürzungen, und Leistungskontrolle wird übersetzt mit Abbau von Stellen. Diese Lesart des Wortes Reform ruiniert den Reformwillen, doch sie entspricht der Alltagserfahrung an den deutschen Universitäten. Wird die "Vertragsfähigkeit der deutschen Politik" nicht wiederhergestellt, "wäre jede Hoffnung auf Remedur eitel". Das sieht Peter Glotz richtig. Auch hier ist er optimistisch. DIETER LANGEWIESCHE
Peter Glotz: "Im Kern verrottet?" Fünf vor zwölf an Deutschlands Universitäten. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1996. 160 S., br., 24,- DM.