Rezension: Sachbuch : Vom Fangen fliehender Pferde
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Hier zeichnete kein Wunderkind: Max Liebermanns "Erstes Skizzenbuch" · Von Ilona Lehnart
Dem schmalen Skizzenbuch im handlichen Oktavformat ist nicht die genialische Handschrift eines früh Vollendeten eingeschrieben. Ungelenk, mit zögernd verhaltenem Bleistift eher kritzelnd als zeichnend, scheint der neunzehnjährige Max Liebermann seiner selbst und seines Talents ungewiß. Und doch ist er früh entschlossen, dem künstlerischen Beruf oder doch wenigstens der Neigung, in der er zugleich die Berufung vermutet, zu folgen. In seinem ersten Lebenslauf, den er kurz nach dem Abitur verfaßt, schreibt er, wie um sich selbst zu vergewissern: "Ich weiß nicht durch welchen Anlaß, aber schon in frühester Jugend suchte ich das, was ich gesehen, auf dem Papier wiederzugeben. Es entstand in mir eine heftige Liebe zur Malerei."
Und niemand hindert ihn, sich zum Künstler ausbilden zu lassen. In den Möglichkeiten, die ihm offenstehen, ist der aus vermögendem Hause stammende Liebermann ähnlich beglückt wie Goethe. Wenngleich seine jüdische Herkunft ihm in der Schule früh bewußtgemacht wird, bedrückt sie ihn nicht, vielmehr schärft sie seinen Blick für Eigentümlichkeiten, die ihm, der dem assimilierten jüdischen Bildungsbürgertum Berlins zugehörte, bei Streifzügen durch das Amsterdamer Judenviertel fremd und vertraut zugleich erscheinen mußten. Aus den unbefangenen, fast karikaturhaften physiognomischen Studien seines kleinen Skizzenbuchs ist zu ersehen, wie sehr ihn diese Welt gefesselt hat. Noch viele Jahre später, um 1905, zeichnet er das quirlige Gedränge in den Amsterdamer Judengassen.
Er vervollkommnet sich im Privatunterricht des Berliner Akademieprofessors Eduard Holbein und in der Zeichenklasse von Carl Steffeck, der wie sein Lehrer Franz Krüger mit Vorliebe Pferde malte. Wie sehr sich Liebermann von Steffecks fast närrischer Pferdeliebe anstecken ließ, verrät sein durchaus ansehnlicher Versuch, ein fliehendes Pferd in sein Skizzenbuch zu zeichnen. Man spürt: Sein Selbstvertrauen wächst, er hält nun die Erscheinungsbilder der Welt in dem Merkbuch fest, auf grauem Papier, das er eigenhändig paginiert, von der ersten bis zur fünfzigsten Seite, als sei mit der Gewissenhaftigkeit der Numerierung schon dem Akt des Zeichnens selbst ein zwingender, unumstößlicher Verlauf gegeben. In Wahrheit unterwirft er sich keiner numerischen Abfolge. Der spontane Einfall führt ihm die Hand und hebt die selbstbestimmte Ordnung auf. Und doch ist es gerade die Nachgiebigkeit des Zeichners sich selbst gegenüber, der das Notizbuch, das ihm auch Reisetagebuch war, seine Privatheit und Intimität verdankt. Es erzählt von dem unbezwingbaren Verlangen, alles Flüchtige sogleich in der Skizze festzuhalten, bevor es noch dem Gedächtnis abhanden kommen könnte.
Etwa in der Zeitspanne von sieben Jahren, zwischen 1866 und 1873, zeichnet der junge Max Liebermann auf, was ihm erinnerungswürdig ist: Menschentypen, Handwerker, Kinder, exotische Tiere aus dem Zoologischen Garten, Berliner Straßenszenen, eine Marktfrau mit pinkelndem Köter, Häuserfassaden, Impressionen aus dem Amsterdamer Judenviertel. Auch das übliche Kopieren nach Werken bewunderter Vorbilder wird im Skizzenbuch geübt, darin ist Liebermann, der später ein so dezidierter Antiakademiker wurde, ganz das Kind seiner Epoche und ihres klassischen Bildungskanons.
Bisweilen dürfte das geheime Kräftemessen ernüchternd gewesen sein. Vier Zeichnungen nach Meisterwerken von Tizian, Michelangelo, Ingres und Menzel vertraut der Schüler seinem Skizzenbuch an, auf der fünften erkühnt er sich, die Laokoon-Gruppe mit dem Zeichenstift zu umreißen - und alles Figürliche, alles Bewegte gerät ihm steif und eckig. Wie sollte es da wundern, daß Liebermann die ungelenken Exerzitien lebenslang in seinem Atelier unter Verschluß hielt und nur einige wenige Blätter in Umlauf brachte?