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Rezension: Sachbuch : Überprüfung einer Legende

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Die Berliner Zeitungen über Edvard Munch im Jahre 1892

          3 Min.

          Der sogenannte "Munch-Skandal" des Jahres 1892 wird in der deutschen Kunstgeschichte als die Geburtsstunde der Moderne angesehen. Im Herbst jenes Jahres war der knapp dreißigjährige norwegische Maler vom Verein Berliner Künstler zu einer Separatausstellung eingeladen worden. Die fünfundfünfzig vom Künstler selbst ausgewählten Exponate aus mehreren Schaffensperioden schockierten das Publikum und die Künstlerschaft der Reichshauptstadt gleichermaßen, so daß die Gastgeber sich nach einer außerordentlichen Vereinssitzung mehrheitlich entschieden, die Ausstellung vorzeitig zu schließen. Nach diesem Intermezzo waren die Künstler in zwei Lager gespalten: für oder wider die Schließung. Auch die wilhelminische Presse nahm Stellung zu Munchs Kunst und zu den avantgardistischen Strömungen der Zeit überhaupt. Als Beispiel für die damalige Entrüstung über die "Anstreicherarbeiten" Munchs wird gern der Berliner Kunstkritiker Adolf Rosenberg zitiert, der sich, angewidert von der Ausstellung, in der konservativen Tageszeitung "Die Post" unter anderem über die "Roheit und Gemeinheit der Empfindung" sowie die "Formlosigkeit und Brutalität der Malerei" ausließ.

          Demgegenüber trat der Journalist Theodor Wolff im liberalen "Berliner Tageblatt" auf, verteidigte die "melancholische Stimmung" in Munchs Bildern und verurteilte im Namen der künstlerischen Freiheit das repressive Vorgehen des Künstlervereins. Diese beiden extremen Positionen der Kunstkritik sowie zahlreiche Zeitungsberichte, die sich in einer ambivalenten Zone dazwischen bewegen, werden in der heutzutage aktuellen Literatur zu Munch immer wieder kolportiert. Ist da eine Revision der Kunstberichterstattung von 1892 notwendig? Monika Krisch, die ein Buch über die Aufnahme Munchs in der Tagespresse vorlegt, bejaht diese Frage.

          Sie geht nach einem altbewährten philologischen Rezept vor: Sie befragt nicht nur eine Auswahl, sondern alle siebzehn relevanten Tageszeitungen Berlins vom Herbst und Winter 1892/93. Dabei ergibt sich, daß die sozialdemokratische und die katholische Presse sich in ihren Kulturabteilungen kaum mit Kunst beschäftigten. Krisch erfaßt in den übrigen Blättern, soweit möglich, die weltanschauliche und politische Orientierung der Kunstkritiker sowie die entsprechende Ausrichtung des jeweiligen Blattes. Der Befund: Im Feuilleton wurde kulturpolitisch nicht immer dieselbe Farbe bekannt wie im übergeordneten politischen Teil der jeweils untersuchten Zeitung. Bei dieser Nuancierung der Sehweise bekommen die einst vielgelesenen Journalisten, etwa Ludwig Pietsch, Georg Voß, Helene Vollmar, Reinhold Schlingmann und andere, die jetzt - hundert Jahre später - kaum mehr als Namen in Erscheinung treten, eine individuelle Kontur. Denn der Fall Munch macht deutlich, daß die ästhetische Position eines Kritikers von seiner politischen zu unterscheiden ist. Und nicht nur das: Es gibt Monika Krisch zufolge bei der ersten Reaktion auf die Bilder Munchs in Deutschland keine Einheitsetiketten, die ein "liberales" oder "konservatives" Lager der Journalisten ausweisen.

          Anhand der Beurteilungskriterien der Berliner Rezensenten studiert Krisch die häufig wiederkehrenden Rubrizierungen von Munchs Kunst unter die Kategorien des "Häßlichen", "Fragmentarischen" und "Nationalen". Gerade an dessen jüngsten Bildern, die einem radikalen Subjektivitätskonzept folgten, schieden sich die Geister der Presse, aber nicht unbedingt nach herkömmlichen kulturpolitischen Mustern. Wie Krisch zeigt, überkreuzten sich immer wieder kulturpolitische und ästhetische Gesichtspunkte. Ein Beispiel: In der Ablehnung des Häßlichen in der modernen Kunst standen zwei politisch ansonsten entgegengesetzte Zeitungen Seite an Seite: die liberal-demokratische "Vossische Zeitung" und die monarchistisch-konservative "Kreuzzeitung".

          Wer sich in Zukunft mit den frühen Reaktionen auf Edvard Munch in der wilhelminischen Presse beschäftigen will, wird sich auf eine Diskussion mit Krisch einlassen müssen. Dabei macht es die Verfasserin ihren Lesern nicht leicht. Allzusehr schneidet sie die Rezensionen auseinander, damit sie sich dem übergeordneten Themenkonzept anpassen. Da keine einzige Besprechung in extenso abgedruckt ist, hinterläßt die Studie den Eindruck des Unvollständigen. Das Fehlen jeglicher Illustrationen verstärkt diesen Eindruck. Munchs in Berlin ausgestellte Bilder muß der Leser im Kopf haben. CECILIA LENGEFELD

          Monika Krisch: "Die Munch-Affäre - Rehabilitierung der Zeitungskritik. Eine Analyse ästhetischer und kulturpolitischer Beurteilungskriterien in der Kunstberichterstattung der Berliner Tagespresse zu Munchs Ausstellung 1892". Tenea Verlag, Mahlow bei Berlin 1997. 233 S., 45,- DM.

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