Rezension: Sachbuch : Malkittel mit Hut
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Das ganze Werk Max Liebermanns · Von Karin von Maur
Zum einhundertfünfzigsten Geburtstag von Max Liebermann, der in Berlin mit einer großen Retrospektive im Alten Museum begangen wird, liegt auch der zweibändige _uvrekatalog sämtlicher Gemälde des Künstlers geschlossen vor. Mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Tod Liebermanns wird damit das rund 1600 Bilder umfassende malerische Werk in seiner Spannweite und chronologischen Entfaltung zum ersten Mal überschaubar.
Der erste Band, der die Jahre 1865 bis 1899 umfaßt, enthält die weithin bekannten Studien und Gemälde, die das holländische Alltagsleben wie "Altmännerhaus in Amsterdam" (1880), "Die große Bleiche" (1883) oder "Flachsscheuer in Laren" (1887) schildern. Entwickelt auf der Basis prägender Eindrücke von Frans Hals und Menzel, Munkácsy und Millet, trugen diese Bilder dem Sohn des begüterten Großindustriellen Louis Liebermann den zweifelhaften Ruf eines "sozialdemokratischen Armeleutemalers" ein. Dieses Verdikt kränkte den Künstler zutiefst, da es ihm vor allem darauf ankam, die natürliche Würde und das Arbeitsethos seiner überwiegend aus dem ländlichen und handwerklichen Milieu stammenden Modelle zum Ausdruck zu bringen.
Hingegen fand Liebermann in Paris, wo er seit den siebziger Jahren mit Künstlern des Barbizon-Kreises verkehrte und an den Ausstellungen des "Salon" teilnahm, frühe Anerkennung und prominente Käufer wie den Sänger Jean-Baptiste Faure. Nach seinem Paris-Aufenthalt fährt er nach Italien, wo er in Venedig Franz Lenbach trifft, auf dessen Empfehlung er nach München übersiedelt. Dort entsteht im Winter 1878/79 sein erstes Historienbild, "Der zwölfjährige Christus im Tempel", mit dem er sich in die Nähe von Fritz von Uhde begibt. Das Gemälde, das in seiner ursprünglichen Fassung den jungen Christus als flinken, nacktbeinigen Judenknaben mit struppigem schwarzem Haar zeigt, löste bei der dritten Münchner Kunstausstellung in Teilen der Bevölkerung Empörung und sogar eine Debatte im Bayerischen Landtag aus - ein Skandal, der Liebermann zum Verlassen Münchens veranlaßte. Vor 1884, als er das Bild seinem Freund Uhde schenkte, hat er den Jesusknaben in ein engelhaftes blondes Kind im langen weißen Hemd verwandelt. Fortan hegte Liebermann eine gewisse Scheu vor biblischen, mythologischen oder historischen Sujets, zumal ihm ohnehin alles Pathetische fernlag.
Zweifellos zeugen Liebermanns figurenreiche Kompositionen bis zur Jahrhundertwende trotz ihrer noch weitgehend tonigen Farbgebung von einer meisterlichen Beherrschung in der Wiedergabe atmosphärischer und psychologischer Stimmungen. Bestärkt durch Manet, dessen impressionistische Werke er 1896 während einer Paris-Reise mit Hugo von Tschudi bei Durand-Ruel kennenlernte, hellt sich seine Palette auf, und seine Pinselschrift wird offener und spontaner. Die erzählerischen und vielfach häuslichen Genremotive treten in den Hintergrund und werden zunehmend von luftigen Freilichtszenen abgelöst. Daß diese ersten drei Jahrzehnte auch im Zeichen des Kampfes für eine neue Kunst mit zeitgenössischen Themen jenseits von chauvinistischer Historien- oder schwülstiger Salonmalerei standen, erweisen Liebermanns kunstpolitische Aktivitäten, zum Beispiel anläßlich der Pariser Weltausstellung zum einhundertsten Jahrestag der Französischen Revolution 1889, wo er auf Einladung des Pariser Kommissars eine unabhängige Ausstellung deutscher Künstler organisierte, oder die Gründung von Künstlerzusammenschlüssen wie die "Vereinigung der 11" (als Vorläufer der Sezession). In Frankreich und Holland fand er ein liberales Geistesklima vor, das ihn anzog, weil es im Gegensatz zum preußischen Monarchismus stand, der unter Wilhelm II. das deutsche Kunstleben infiltrierte.