Rezension: Sachbuch : Loses Leben, lange Briefe
- Aktualisiert am
Rahel Varnhagen schreibt Pauline Wiesel / Von Walter Hinck
Fährt man vom thüringischen Rudolstadt nach Saalfeld, kann man kurz vor dem Ziel einen Gedenkstein nicht übersehen. Hier fiel im Oktober 1806, in einem Vorgefecht zur Schlacht von Jena und Auerstedt, der Führer des fast vollständig vernichteten Korps, Prinz Louis Ferdinand, im Alter von dreiunddreißig Jahren. Der Neffe des Alten Fritz war ein militärischer Heißsporn, aber auch ein Freund der Wissenschaften und Künste, begabt als Pianist und Komponist, der Bohemien unter den preußischen Prinzen. Manche seiner Züge, vor allem die Eigenmächtigkeit in der Entscheidung zur Schlacht, hat man in Kleists "Prinz Friedrich von Homburg" wiederentdecken können. Zum Helden eines eigenen Dramas machte ihn Fritz von Unruh im Stück "Louis Ferdinand" (1913).
Als einen "Abgott schöner Frauen" hat Fontane den Prinzen beschrieben, und zu den Frauen, die nicht nur zu seinen Füßen, sondern auch in seinem Bette lagen, gehört Pauline Wiesel. Sie wurde zur literarischen Figur in Fanny Lewalds Roman "Prinz Louis Ferdinand. Ein Zeitbild" (1849). Die Frauen und Männer, in deren "Liebesreigen" (Carola Stern) Pauline Wiesel Mittelpunkt war, trafen sich im berühmten Salon von Rahel Levin, der späteren Rahel Varnhagen.
Pauline Cesar, 1778 als Tochter des Direktors der königlichen Bank und einer Mutter aus bekannter Berliner Hugenottenfamilie geboren, heiratete 1799 den preußischen Beamten Wilhelm Wiesel und lebte bald von ihm getrennt. Sie hatte das Glück, in Rahel Levin ihre beste und treueste Freundin zu finden und so nach ihrer Abreise aus Berlin für Jahrzehnte mit der wohl bedeutendsten Briefeschreiberin der deutschen Literatur in Korrespondenz zu treten. Erst jetzt, mit der Herausgabe des Briefwechsels durch Barbara Hahn und Birgit Bosold, wird ihre Teilhabe am literarischen Ruhm der Freundin voll dokumentiert. Der Band, Bestandteil der "Edition Rahel Levin Varnhagen", ist gegenüber zwei vorhergehenden Ausgaben eine vervollständigte und die erste umfassend kommentierte Ausgabe des Briefwechsels. Zustatten kam ihr die Wiederentdeckung von Rahels Nachlaß in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau, zu dem die Herausgeberinnen seit 1984 Zugang hatten. Über die Bedeutung dieser Korrespondenz läßt Rahel selbst keine Zweifel: sie ist der einzige Briefwechsel, den sie in ihrem Testament von 1816 erwähnt.
Die Treue zur Freundin ist so selbstverständlich nicht, und sie wurde von August Varnhagen, den Rahel 1814 heiratete, trotz gegenteiliger Beteuerungen eifersüchtig und mißmutig beobachtet. Nicht nur sein Briefwechsel mit Pauline, sondern auch seine Aufzeichnungen über sie werden im Band mit abgedruckt. "Ich unterdrückte mein widriges Gefühl", heißt es dort, "und um Rahel zu erfreuen, ging ich freundschaftlich mit Pauline um." Varnhagen kannte Pauline nicht aus ihrer Jugendzeit, wo sie, wenn die erhaltenen Porträts nicht trügen, von hinreißender Schönheit gewesen sein muß. Aber er wußte natürlich von ihren stadtbekannten Liebschaften. Als Pauline 1808 Berlin endgültig verließ, floh sie auch vor ihrem schlechten Ruf in der Gesellschaft.