Rezension: Sachbuch : Ich hab's! Die kanonische Avantgarde ist unsere Rettung
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It was twenty years ago today: Jürgen Habermas lehrte seine Band das Nachdenken über die Tendenzwende und gab zwei Bücher heraus, die kurzfristig Epoche machten
Vor zwanzig Jahren, im Herbst 1979, erreichte die "edition suhrkamp" ihre eintausendste Nummer. Der entstandene Regenbogen bunter Taschenbücher bot damals mehr als eine Buchreihe: Es handelte sich um das, was heute oft verlangt wird, um einen Kanon. Hier trat dem Leser die Pflichtlektüre der literarischen, sozialwissenschaftlichen und philosophischen Intelligenz in Deutschland entgegen. Unweit von Becketts "Endspiel" standen Roland Barthes' "Mythen des Alltags" und Adornos "Jargon der Eigentlichkeit", gleich neben der "Unwirtlichkeit unserer Städte" fand sich das "Ende des Totemismus". "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" folgte auf Szondis "Theorie des modernen Dramas" und Enzensbergers "Einzelheiten" auf Majakowskijs "Wie macht man Verse?" Wenn ein gebietsübergreifender Begriff der Avantgarde für die Ideengeschichte der Nachkriegszeit überhaupt tauglich sein sollte, dann müsste er den Zusammenhang solcher Texte bezeichnen. Eine kanonische Avantgarde - die fünfziger und sechziger Jahre in Deutschland waren voller Paradoxien.
Doch im Herbst 1979 war die Wirkungsmacht, die diese intellektuelle Formation beinahe zwanzig Jahre lang ausgeübt hatte, zweifelhaft geworden. Nirgends traten diese Zweifel deutlicher hervor als im Vorwort zu jenen beiden Bänden, die als Jubiläumsschrift die Nummer 1000 der "edition suhrkamp" trugen. Unter dem bei Karl Jaspers entliehenen Titel "Stichworte zur ,Geistigen Situation der Zeit" hatte Jürgen Habermas zweiunddreißig zeitdiagnostische Beiträge aus aller Herren und zwei Damen Federn versammelt: Von Martin Walser und Horst Ehmke führte der Reigen über die Gebrüder Mommsen, Ulrich Preuß und Peter Glotz bis zu Uwe Johnson und Karl Markus Michel. Nach dem Einladungsbrief des Herausgebers sollten sie prüfen "wie es denn mit der intellektuellen Linken, die bis in die siebziger Jahre hinein die Kultur in Deutschland, so sagt man, ,gemacht' hat, heute steht".
Habermas' Vorwort selbst gab eine defensive Antwort. Es sah die Dominanz von Aufklärung, Humanismus und dem, was er bürgerlich radikales Denken nannte, in der Nachkriegsepoche schwinden. "Damit ist es nun vorbei." Gemeint war allerdings nicht so sehr die Veralltäglichung des Elans von 1968. Der Ideenvorrat an Reform und Utopie ist aufgezehrt, konstatierte in seinem Beitrag zwar Karl Heinz Bohrer. Doch die Tatsache, dass auf dem Marsch durch die Institutionen sich nicht selten die Institutionen als zäher erwiesen als die Partisanen, fand in den abgedruckten Texten insgesamt nur wenig Beachtung. Vielmehr lokalisierte Habermas die Gründe für die Zurückdrängung der alten Linken selbst geistesgeschichtlich: in einer "militanten" Infragestellung ihrer Tradition durch eine "Neue Rechte". Als deren Bannerträger wurden Autoren genannt, die sich vermutlich schon damals durch das Prädikat "neu" geschmeichelt sehen durften: unter anderen Hermann Lübbe, Erwin Scheuch, Hans Maier, Helmuth Schelsky.
Der in zahlreichen Beiträgen der "Stichworte" fallende, heute fast vergessene Schlüsselbegriff zur Beschreibung dieser Umstände war die "Tendenzwende". Darunter verstanden manche wie Ralf Dahrendorf eine "rückwärts gewandte Modernität" als Haltung derjenigen, die sich in den nach 1968 erreichten Positionen eingerichtet hatten und nun das Interesse an der Gesellschaft verloren. Ihr Kulturpessimismus überließ sich auch intellektuell den erreichten Privilegien. Auf Mont Saint Victoire gab es kein Publikum mehr zu beschimpfen. Die meisten Autoren diagnostizierten die Tendenzwende jedoch lieber anhand von - ach, deutsche Komposita! - Radikalenerlass und Rasterfahndung: Die Orientierung des Kalten Kriegs am äußeren Feind, so hieß es, sei nunmehr durch die am inneren ersetzt worden. Es war die Zeit, als kritische Theoretiker sich allen Ernstes gegen den überaus scharfsinnigen Vorwurf verwahren mussten, den Terrorismus inspiriert zu haben.