Rezension: Sachbuch : Hitlers Code
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Holocaust aus faustischem Streben? Daniel John Goldhagens Remythisierung der Deutschen
Schon werden Pirouetten gedreht und neue Kämpfe ausgerufen, schon geht es darum, wer wen und wie ins Gespräch bringt. Elie Wiesel spricht von "unwiderleglichen Beweisen", und eine deutsche Zeitung wähnt einen neuen Historikerstreit. Aber das Buch, um das es hier geht, liegt bisher nur auf englisch vor, und die Wirkung seiner in drei Monaten erscheinenden deutschen Übersetzung bleibt abzuwarten. Der junge amerikanische Historiker Daniel John Goldhagen hat eine Dissertation mit dem Titel "Hitlers willige Vollstrecker" ("Hitler's willing executioners") geschrieben, die in Amerika zu Bewunderung und zu heftigen Kontroversen geführt hat und nun auch in Deutschland Streit und Bekenntniseifer auslöst. Das liegt nicht an der Komplexität des Buches, sondern vielmehr an der radikalen Einfachheit, mit der der Autor seine Thesen vorträgt.
Goldhagen glaubt, daß es eine tief in der Geschichte verankerte, spezifisch deutsche Form des Antisemitismus gibt, die in ihren Voraussetzungen und Zielen von allen anderen europäischen Antisemitismen abweiche. Ausführlich erörtert er die antisemitischen Strömungen, Programme und Zirkel des neunzehnten Jahrhunderts, um nachzuweisen, daß der "Antisemitismus der Nazis im neunzehnten Jahrhundert längst Gestalt angenommen hatte . . ., alle Schichten und Klassen erfaßte und tief im politischen und kulturellen Leben des Landes verwurzelt" gewesen sei. Bereits im neunzehnten Jahrhundert hätten große Teile der deutschen Gesellschaft die Juden auslöschen wollen, und diese zunächst theoretische Vernichtungsphantasie sei von Anfang an das distinktive Merkmal des deutschen Judenhasses gewesen. Antisemitismus sei der "common sense" bereits des frühen neunzehnten Jahrhunderts gewesen. Der Nationalsozialismus habe sich lediglich eines in der Kultur bereits manifesten Verlangens zu bedienen brauchen. Die These - so einfach wiedergegeben, wie sie in dem Buch erscheint - hat weitreichende Folgen. Der Nationalsozialismus ist nur noch die Wunscherfüllung eines ambivalenten nationalen Selbst. Denn die Deutschen haben nach Auffassung Goldhagens seit mindestens 150 Jahren die Liquidierung des Judentums gewünscht oder zumindest für nötig gehalten.
Mit Bedacht spricht Goldhagen immer von "den Deutschen". Das gibt seinem Buch eine fast pamphlethafte Intensität. Er weigert sich, soziale Gruppen innerhalb der Gesellschaft zu charakterisieren oder auch nur zu identifizieren. Antisemitische Äußerungen werden ihm so zum Ausdruck eines kollektiven, gleichsam nationalen Willens. Allem Anschein nach bricht er mit der Einsicht der modernen Antisemitismusforschung, die den Judenhaß immer auch auf sein jeweiliges soziales, ökonomisches und intellektuelles Milieu zurückführt. Am Horizont dieser Erörterung steht eine Art nachgetragener Geschichtsmetaphysik, wonach den Deutschen der Wunsch, die Juden zu vernichten, allmählich zur Zwangsvorstellung geriet.
Judenhaß auch ohne Juden
Es waren wohl die unmittelbar politischen Konsequenzen dieser These, die das Buch in Amerika weit über die akademische Welt hinaus bekannt gemacht haben. An einer Stelle spricht Goldhagen explizit davon, daß es für eine fundamental antisemitische Gesellschaft irrelevant sei, ob der Antisemitismus fünfzig oder hundert Jahre schweige. Das ist mit Blick auf das achtzehnte Jahrhundert gesagt, läßt aber beunruhigende Fragen an die Gegenwart aufkommen. Wer Goldhagens Argumenten glaubt, muß annehmen, daß die deutsche Gesellschaft gleichsam einem geschichtsnotwendigen Antisemitismus folgt, einem Judenhaß auch ohne Juden.