Rezension: Sachbuch : Gefolterte Geständige und vorgetäuschte Wunder
- Aktualisiert am
Vor zehn Jahren hat die Stadt Trient der Via San Simonino den Heiligentitel gestrichen, aber noch immer erzählen zwei steinerne Medaillons am barocken Palazzo Salvadori die Legende des einstigen Lokalheiligen. Bis 1965 ehrte die Kirche das Christenkind Simon als 1475 von der jüdischen Gemeinde Trients qualvoll gekreuzigtes Christuskind. "Der glorreiche Simon, unbefleckter und unschuldiger Märtyrer, wurde von den Juden in Verachtung unseres Glaubens im Kreuz ausgestreckt", schildert ein danach im süddeutschen Raum verbreitetes Druckblatt den Ritualmord und kolportiert auch die Gotteslästerungen und Flüche der Juden während der Marter.
Ritualmordbeschuldigungen führten in der frühen Neuzeit und besonders im deutschsprachigen Raum zur Auslöschung ganzer jüdischer Gemeinden. Der Fall des kleinen Simon ist wohl das am besten bezeugte Beispiel für derartige religiös motivierte und von kirchlicher Seite entfachte Verleumdungen. Den des Ritualmords Beschuldigten warf man üblicherweise vor, ein christliches Kind umgebracht und sein Blut in das ungesäuerte Brot des Pessach-Mahls gemischt zu haben. Noch 1892 in Xanten und 1900 in Konitz (Westpreußen) wurden Ritualmordprozesse inszeniert.
Die historische Dokumentation "Trient 1475" stellt den Verlauf und die Hintergründe des damaligen Verfahrens minutiös dar. Gleichsam durch ein Brennglas betrachtet der Autor darin die Verleumdung, Gefangennahme und Folterung der Trienter Juden. Er stützt sich hauptsächlich auf eine umfangreiche Handschrift, die nur wenige Jahre danach die Kampagne zur Kanonisierung des kleinen Simon unterstützen sollte. Um Glaubwürdigkeit bemüht, kittet das lateinische Manuskript die Aussagen christlicher Zeugen mit den unter Folter erpreßten Geständnissen der Juden zu einer rechtfertigenden Erzählung zusammen. Ihr Hauptteil besteht aus Auszügen der Gerichtsverhandlungen, die sich von März 1475 bis April 1476 hinzogen.
Aus dem Dunkel der Geschichte treten die drei Familien der kleinen jüdischen Gemeinde hervor, deren Mitglieder durch einige überlieferte Daten biographische Konturen erhalten. Ihr Schicksal ist besiegelt, als sie im offenen Keller eines ihrer Häuser die Leiche des kleinen Simon entdecken. Dergestalt tritt das vom fanatischen Judenhasser Bernardino da Feltre kurz zuvor in den Fastenpredigten in Trient prophezeite Unheil ein.
Die Ausführungen des Autors über den Prozeßverlauf erhellen die Institution des mittelalterlichen Gerichtsverfahrens und zeigen den prozeßbestimmenden Einsatz der Folter auf. Die jüdischen Gefangenen wurden wiederholt und so lange gequält, bis jeder den Ritualmord unter Erfindung immer furchterregenderer Einzelheiten gestanden hatte. Alle Männer der jüdischen Familien wurden grausam hingerichtet, die vom Ritual ausgeschlossenen Frauen unter Hausarrest gestellt, entrechtet und zwangskonvertiert. Der zur Überprüfung des Gerichtsverfahrens und der angeblichen, durch den Leichnam Simons bewirkten Wunder eintreffende päpstliche Gesandte kehrte, in Trient an Leib und Leben bedroht, unverrichteter Dinge nach Rom zurück.
Die vorliegende wissenschaftliche Publikation mit umfangreichem Anmerkungsteil setzt einiges Wissen voraus, da sie sich auf das fünfzehnte Jahrhundert beschränkt. Für Laien hätte man sich einleitend einen Exkurs über die Ursachen des religiös und wirtschaftlich motivierten Judenhasses gewünscht. So fehlt der Rückblick auf die im dreizehnten Jahrhundert von der Kirche programmatisch betriebene Ausgrenzung der Juden. Papst Innozenz III. hatte sich in seiner Bulle von 1205 auf den von Augustinus geprägten Begriff der Sündenknechtschaft gestützt, um die Unterdrückung der Juden durch die weltlichen Herrscher zu fordern. Beim Vierten Laterankonzil (1215) beschlossen die kirchlichen Würdenträger den Ausschluß von Juden aus dem öffentlichen christlichen Leben, aus Handwerk und offiziellen Ämtern. Sie mußten sich durch ihre Kleidung zu erkennen geben und neben Abgaben an die Kirche hohe Sondersteuern für Geldwechsel, Pfandleihe und Zinsnahme entrichten.
Die kirchliche Version des Trienter Ritualmords wurde 1588 durch die Kanonisierung des Simon festgeschrieben. Noch Goethe dürfte das Standbild an der Frankfurter Mainbrücke gekannt haben, das ein gemartertes Kind und vom Teufel begleitete Juden mit der Inschrift vereinte: "Solang Trient und das Kind wird genannt, der Juden Schelmstück bleibt bekannt". BRITTA SCHMID
Ronnie Po-Chia Hsia: "Trient 1475". Geschichte eines Ritualmordprozesses. Aus dem Amerikanischen von Robin Cackett. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1997. 223 S., geb., 38,- DM.