Rezension: Sachbuch : Ein begabter Mensch kommt hinter alles
- Aktualisiert am
Freiheit ist Fortschritt im Reichtum der Erfahrungen: John Dewey folgte den Spuren Hegels
Das Kind, das einen unbekannten Gegenstand aufhebt, ihn betastet, ihn in den Mund steckt, darauf beißt, ihn drückt, ihn zu zerlegen versucht, ist das Urbild von John Deweys Pragmatismus. Die wissenschaftliche Welterkundung unterscheidet sich von der kindlichen durch reflektierte Methodizität. Auch die Wissenschaft jedoch bringt ihre Gegenstände in bestimmte Situationen, um Veränderungen zu beobachten. Allem Wissen liegt ein Tun zugrunde, Denken ist Handeln, entlastet von realen Konsequenzen, Probehandeln. Learning by doing lautet der einzige Spruch, mit dem Dewey im deutschen Allgemeinbewußtsein präsent ist. Die Substanzbegriffe müssen durch Funktionsbegriffe ersetzt werden, so hat das Cassirer philosophisch konventioneller und in der Durchführung erheblich unschärfer ausgedrückt.
Die Pragmatisten werden jetzt weiträumiger gelesen, mit einiger Verspätung, zu der die Vorstellung beigetragen haben mag, daß Amerikaner nicht denken können, weshalb sie ja auch Pragmatisten geworden sind. Peirce interessiert als Zeichentheoretiker, Mead als Sozialphilosoph, James als Pluralist und Perspektivist und am spätesten von allen, propagiert durch Joas, popularisiert von Rorty, Dewey als Handlungs- und Wissenschaftstheoretiker. Der Umgang mit den Pragmatisten ist pragmatisch. Das ist teils ganz in Ordnung, teils wiederholt es die Ausgrenzung der amerikanischen Philosophie aus der europäischen Tradition und damit aus der Metaphysik und den Antworten auf sie. Dabei haben Dewey und Mead nicht nur emsig Platon und Hegel studiert, sie standen auch in genauer Auseinandersetzung zumal mit Bergson, dem großen Unbekannten einer germanozentrischen Philosophiegeschichtsschreibung. Dieses lebensphilosophische Moment des Pragmatismus geht einer unhistorischen, antiphilologischen Lektüre verloren. Dabei hätte alles so viel einfacher laufen können, hätte sich die Metaphysikkritik Heideggers oder der Kritischen Theorie nicht an Nietzsche oder Bergson mit ihren ungelösten Dualismen gehalten, sondern an den pragmatistischen Gegenentwurf. Und viel Mühe könnte noch heute denen erspart werden, die die Bestimmungen des Daseins als In-der-Welt-Sein aus "Sein und Zeit" herausklauben, anstatt sie da aufzusuchen, wo sie in leuchtender Klarheit ausgebreitet werden.
"Die Suche nach Gewißheit" ist, mehr als eine Begründung experimenteller Wissenschaft, eine Kritik der philosophischen Tradition um ihrer sozialen Folgen willen, Ideologiekritik. Sie stellt gewissermaßen die Frage, wie aus dem alles in den Mund steckenden Säugling der Fachmensch ohne Geist und der Genußmensch ohne Herz wird. Am Anfang steht ein Priesterbetrug. (Das Historische ist nicht Deweys Stärke.) Die Priester und ihre wissenschaftlichen Erben aber haben den Massen nur einreden können, das in höherem Maße Wissenswerte zu besitzen, weil dem Vorrang der vita contemplativa vor dem Herstellen und Handeln eine anthropologische Plausibilität zukommt. Das Wesen der Dinge ist unveränderlich, das Wissen dieses Wesens habbar. "Praktische Tätigkeit dagegen hat es mit individuellen und einzigartigen Situationen zu tun, die niemals exakt wiederholbar sind und hinsichtlich deren keine vollständige Sicherheit möglich ist." Die Welt des wahren Seins hat ein Refugium vor den Unbillen der zu bloßem Schein depotenzierten Welt des Werdens. Diese Suche nach Gewißheit jedoch wird angesichts der Möglichkeiten moderner Technik - des Stands der Produktivkräfte - zur Hemmnis gesellschaftlichen Fortschritts.