Rezension: Sachbuch : Der einzige, der wahre Nadar
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Félix Tournachon, genannt Nadar, gilt heute als einer der berühmtesten Fotografen des vorigen Jahrhunderts. Den Zeitgenossen muß er eher als ein Hans Dampf in allen Künsten erschienen sein, ein Abenteurer, der sich auf allen Gebieten versuchte, ein Stehaufmännchen, das nach jeder Niederlage eine neue Karriere in Angriff nahm. Er war Medizinstudent, Journalist, Karikaturist, Verleger, Fotograf, Spion, Ballonfahrer, Schriftsteller und nicht zuletzt ein engagierter Republikaner, in dessen Atelier sich die Gegner von Napoleon III. versammelten und gelegentlich bei offenem Fenster die Marseillaise anstimmten. Keine Karriere verlief geradlinig. Der Medizinstudent mußte aufgeben, weil er kein Abitur hatte. Der Unternehmer kam ins Schuldgefängnis. Der Freiheitskämpfer, der 1848 nach Polen aufbrach, wurde in Eisleben verhaftet. Der Ballonfahrer machte eine Bruchlandung bei Hannover.
Er hat unermüdlich Bücher veröffentlicht. Wer die hektisch geschriebene Journalistenprosa heute noch liest, tut es freilich nur wegen der vielen Anekdoten: vor allem über die großen Fotografen, aber auch über seinen Freund Baudelaire. Sein Ruhm beruht auf den Porträtfotos: Sarah Bernhardt, George Sand, Eugène Delacroix oder den Pantomimen Debureau sehen wir längst mit seinen Augen. Dabei kam auch die Fotografenkarriere fast zufällig zustande. Eigentlich sollte sein mißratener Bruder, ein gescheiterter Maler, sich mit dem Fotografenhandwerk sein Brot verdienen. Als auch das nicht klappte, übernahm Nadar das Atelier und hatte prompt Erfolg. Als der andere den Lohn kassieren und das Signet "Nadar" für sich verwenden wollte, prozessierte Nadar gegen den eigenen Bruder und gewann in allen Instanzen: Das Gericht entschied, er und kein anderer sei "der einzige, der wahre Nadar". Auch als Fotograf war Nadar ständig auf der Jagd nach Neuem. Er machte als erster vom Ballon aus Luftaufnahmen, und als einer der ersten fotografierte er bei elektrischem Licht, seine Kunstlichtaufnahmen der Pariser Katakomben waren auf der Londoner Weltausstellung von 1862 ein großer Erfolg.
Der Katalog der Nadar-Ausstellung, die im vorigen Jahr in Paris und anschließend in New York gezeigt wurde, liegt jetzt auch in deutscher Übersetzung vor. Mit sieben bebilderten Essays und einem kompetent kommentierten Katalogteil von fast hundert berühmten Fotografien ist dies die beste Nadar-Monographie, die es jemals gab. - Unsere Abbildung entnehmen wir dem besprochenen Band. Sie zeigt das filigrane "Modell eines Helikopters", von einem Wissenschaftler entworfen, von einem Uhrmacher gebaut und vom begeisterten Nadar 1863 aufgenommen: ein ernstgemeintes, wenngleich flugunfähiges Gebilde, das ein surrealistischer Künstler erdacht haben könnte. (Maria Morris Hambourg / Françoise Heilbrun / Philippe Néagu (Hg.): "Nadar". Schirmer/Mosel Verlag, München 1995.
284 S., 98 Tafeln, 105 Abb., geb., 128, - DM.) W.W.