https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-sachbuch-das-verdraengte-bild-vom-ganzen-11281922.html

Rezension: Sachbuch : Das verdrängte Bild vom Ganzen

  • Aktualisiert am

"Die Metaphysik ist und bleibt Kern der Philosophie." Jörg Disse schreibt das ganz ohne die Pose des vom Weltlauf Mißachteten. Und vielleicht versteht es sich, wenn der Begriff hinreichend allgemein gefaßt ist, am Ende wirklich von selbst. Wir sind nicht ständig unter höchstem Konsistenzdruck damit beschäftigt, aber irgendwelche Vorstellungen vom Ganzen tragen wir immer mit uns herum.

          3 Min.

          "Die Metaphysik ist und bleibt Kern der Philosophie." Jörg Disse schreibt das ganz ohne die Pose des vom Weltlauf Mißachteten. Und vielleicht versteht es sich, wenn der Begriff hinreichend allgemein gefaßt ist, am Ende wirklich von selbst. Wir sind nicht ständig unter höchstem Konsistenzdruck damit beschäftigt, aber irgendwelche Vorstellungen vom Ganzen tragen wir immer mit uns herum. Wir glauben an einen Schöpfergott oder daran, daß die Gene alles bestimmen. Vielleicht glauben wir auch, daß der Mensch nicht zur Beantwortung der letzten Fragen gemacht ist, aber gerade das ist eine - viel voraussetzende - metaphysische Position. Wenn es nun im Alltagsbewußtsein Totalisierungen gibt, muß auch eine Instanz denkbar sein, die diese Bemühungen methodisch prüft. Sie heißt von alters her Metaphysik oder Erste Philosophie.

          Das sehen nicht alle so. Sie halten die Metaphysik für dogmatisch fundiert und damit moderner Rationalität inadäquat. Doch das verdrängte Bedürfnis nach einem Bild vom Ganzen schafft sich seinen Weg. Der dogmatische Antidogmatismus führt zu eigenen Irrationalitäten. So wird in der Wellmer-Schule die Kunst zum Ort der metaphysischen Erfahrungen, über die anderswo nicht geredet werden darf. Und der scharf antimetaphysische Habermas bekennt sich zu den unaufgebbaren semantischen Potentialen der Religion. Wie aber kann es semantische Potentiale geben, deren rationale Explikation aus prinzipiellen Gründen versagt ist? Es müßten ihrerseits metaphysische Gründe sein, deren Ausbreitung dann aber zu den ersten Aufgaben der Philosophie gehörte.

          Am Ende schlagen hier - wie ganz ähnlich im Unwillen, über das sogenannte "gute Leben" in der Philosophie zu streiten - szientistische Haltungen durch. Die Wissenschaft darf nur reden über das, was sie selbst nach ausweisbaren Standards eindeutig entscheiden kann. Der Rest ist Lebenswelt. Dabei ist gar nicht einzusehen, warum die Unterscheidungen einer aktualisierten philosophischen Begriffsgeschichte nicht in das Gespräch der Lebenswelt Licht bringen können sollten. Seine Hartnäckigkeit dürfte der szientistische Vorbehalt denn auch aus der Lehre vom Wertezerfall bekommen. Fest sitzt die Vorstellung, die Antike werde von einem natürlich geordneten Kosmos umfangen und das Mittelalter von einem religiös fundierten ordo und die Metaphysik sei die Priesterin dieses Kosmos und dieses ordo. Vermutlich ist der mittelalterliche ordo eine Erfindung der politischen Romantik, auf die dann die Klassizisten mit der Erfindung des griechischen Kosmos reagierten.

          An der pejorativen Verwendung ihres Namens ist die Metaphysik freilich nicht unschuldig. Feuerbach, Nietzsche. Heidegger, Derrida - sie bezichtigen jeweils ihre Vorgänger der Metaphysik, das heißt der unausgewiesenen Substantialisierungen. Auch Hegel will in Seins- und Wesenslogik die vormalige Metaphysik rekonstruieren, um deren Wesenheiten dann in die Subjektivität des Begriffs aufzulösen. Ja, man könnte Aristoteles' Platonkritik geradezu als das prominenteste Beispiel von Metaphysikkritik nehmen, die allerdings von Platon selbst im "Parmenides" bereits vorweggenommen wurde, so daß am Ende die Geschichte der Metaphysik mit der Geschichte ihrer Selbstkritik zusammenfällt. Das heißt dann aber, Metaphysik kann heute, durchaus im Einklang mit Habermas' Insistenz auf einem formalen Rationalitätsverständnis, als Name nur für eine Fragestellung stehen.

          Jörg Disse referiert drei mal drei Metaphysiken. Platon, Aristoteles und Plotin; Augustinus, Thomas von Aquin und Wilhelm von Ockham; Descartes, Kant und Hegel. Er tut das als katholischer Philosoph. Ganz selbstverständlich wird etwa gefragt, ob Platon mit der Idee des Guten "möglicherweise Gott selbst meint". Doch der katholische Ausgangspunkt gereicht der Arbeit erst einmal zum Vorteil. Das Interesse am rationalen Ausweis der Glaubensgehalte stellt alles Historische in den Dienst der Sache. Und das Bewußtsein, in Auslegungstraditionen zu stehen, entwickelt diese Sache aus einer forschungsliteraturgestützten genauen Lektüre.

          Freilich macht sich, wenn die Auslegung offen ist, ein Vorurteil für Transzendenz um so deutlicher bemerkbar. Wo Platon das Aporetische der Ideenlehre zugibt, setzt Disse den Kerngedanken in die Scheidung zweier Welten, bei der die sinnliche Wirklichkeit ihren Grund an einer uns nur indirekt zugänglichen vollkommenen finde. Während er zwar referiert, daß für Aristoteles die Form nur im Einzelding existiert, bedeutet ihm die Anerkennung der Einzelheit doch keinen prinzipiellen Fortschritt über Platon hinaus, da die vergänglichen Einzeldinge bei Aristoteles letztlich um des Göttlichen der ewigen Formen willen da seien. Und obwohl er Hegels Position als Metaphysik der Freiheit faßt, sieht er in der Einzelheit der Individualität dann doch wieder nur die Verkörperung der Allgemeinheit des Geistes.

          Das heißt nun freilich nicht, daß Disse in jedem Eichhörnchen das liebe Jesulein erblickt. Er beklagt, daß die katholische Theologie die Aufarbeitung der modernen Physik weitgehend versäumt habe. Er sieht, gewiß zur Freude von Kurt Flasch, in Augustinus' Trinitätslehre Anknüpfungspunkte, die Metaphysik der Substanzen durch eine Metaphysik der Relationen zu ersetzen. Er nennt Whitehead als - der historischen Darstellung allerdings noch zu nahes - Vorbild für eine zeitgemäße Metaphysik. Damit weist er neben der Historie die Fachwissenschaften, und das müßte wohl näher meinen: Naturwissenschaften und Psychologie, als den anderen Bezugspunkt des Philosophierens aus. Metaphysik hätte auf die aus dem alltäglichen Bewußtsein aufsteigenden Fragen nach Einheit und Zusammenhang zu antworten, indem sie die fachwissenschaftlichen Ergebnisse mit Hilfe der aus ihrer Tradition ererbten Unterscheidungen überprüft.

          GUSTAV FALKE

          Jörg Disse: "Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik". Von Platon bis Hegel. Primus Verlag, Darmstadt 2001. 311 S., geb., 49,90 DM.

          Weitere Themen

          Vorbeigetanzt

          Wiener Festwochen : Vorbeigetanzt

          Bei den Wiener Festwochen wird viel politisiert, aber wo bleibt die Kunst? Alban Bergs Oper „Lulu“ jedenfalls wurde im Schwimmbad versenkt.

          In Schlemihls Schatten

          Norman Maneas Exil-Roman : In Schlemihls Schatten

          Die Hauptfigur in Norman Maneas neuem Roman „Der Schatten im Exil“ hat keinen Namen – aber die gleiche Biographie wie der Autor selbst. Dabei steht das Werk für die Zerrissenheit während und nach der Flucht.

          Topmeldungen

          Die Höhere Berufsbildung sei eine Art Geheimtipp für karrierebewusste Mitarbeiter.

          Unterschätzte Berufsbildung : Master gesucht, Meister noch mehr

          Karriere nur mit Studium? Das geht auch anders, sagen die Kammern. Ein höherer Berufsabschluss wie Meister oder Techniker könne eine Art Geheimtipp für karrierebewusste Mitarbeiter wie auch Unternehmen sein.

          Polizisten unterbinden Protest : Kein Plakat gegen Putin

          Eine Frau demonstriert am 9. Mai mit ihrer ukrainischen Freundin am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow gegen das Putin-Regime. Zwei Polizisten verhindern, dass sie ihr Anti-Russland-Plakat weiter zeigen kann.
          Wenn’s läuft, dann laufen sie: Stuttgarter Spieler nach dem frühen Führungstreffer

          3:0 in der Relegation : VfB Stuttgart zeigt HSV die Grenzen auf

          Der VfB Stuttgart strebt nach dem überzeugenden 3:0-Heimerfolg über den Hamburger SV dem Klassenverbleib entgegen. Den Hanseaten bleibt kaum noch Hoffnung für das Rückspiel am Montag.
          Wladimir Putin nimmt am 1. Juni online an einem Treffen mit Familien teil, die mit dem Orden für elterlichen Ruhm ausgezeichnet wurden.

          Angriffe auf Russland : Putin, der Präsident im Kokon

          Für Russlands Präsidenten häufen sich die schlechten Nachrichten. Er gibt sich unbeeindruckt. Doch sein Bild der Stärke bekommt immer mehr Risse.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.