Rezension: Sachbuch : Bleibe, wo du bist, lieber Herr Jesus, als Lehrer und Exorzist
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Gerd Lüdemann glaubt seinen eigenen Worten nicht: Auf krummen Wegen holt er den verwesten Gekreuzigten wieder in die Gegenwart
Es mußte so kommen. Wer das Schlußkapitel von Gerd Lüdemanns aufsehenerregendem Buch "Die Auferstehung Jesu" von 1994 konsequent weiterdachte, konnte zu keinem anderen Schluß kommen als dem, den der Göttinger Professor für Neues Testament jetzt selbst zieht. Damals klang es allerdings noch zuversichtlich. Lüdemann beschrieb seine Erkenntnis, das Grab Jesu sei voll gewesen und der Leichnam des Gekreuzigten verwest, als Befreiung von religiösem Ballast, und formulierte theologische Konsequenzen: "Es ist kein Schade, daß fortan - frei nach Carlyle - der Christenmensch von Wenigem lebt, was er wirklich glaubt, nicht von Vielem, was zu glauben er sich abmüht. Das ist eine große Befreiung, die die Keime des Neuen bereits in sich trägt." Doch wie kann dieses Neue aussehen, wenn das Denken sich fort und fort daran stößt, daß zufällige und unsichere Geschichtswahrheiten die Begründung ewiger Glaubenswahrheiten nicht sein können?
Seiner neuesten Veröffentlichung stellt Lüdemann nun einen Abschiedsbrief an den "lieben Herrn Jesus" voran. Lüdemann hat mittels historischer Rückfrage erkannt: Das "allermeiste, was Du der Bibel zufolge gesagt bzw. getan hast, hast Du gar nicht gesagt und getan. Du warst nicht ohne Sünde und bist nicht Gottes Sohn. Du hast das Abendmahl, das ich jahrelang allsonntäglich zu Deinem Gedächtnis beging, nicht eingesetzt." Und Lüdemann rät: "Bleibe Du dort, wo Du bist, im Galiläa des ersten Jahrhunderts. Dann bist Du wieder viel glaubwürdiger als charismatischer Exorzist und Lehrer von Rang, und wir können dann wieder in ein normales Verhältnis zu Dir treten."
Doch nicht nur mit der Christologie wird aufgeräumt: "Dein Gott hat die Welt gar nicht geschaffen, wie Du als frommer Jude Deiner Tage annehmen mußtest. Vielmehr ist das Universum durch eine Evolution entstanden, an deren Anfang nach heutigem Wissen der Urknall lag." Im Traum erlebt sich Lüdemann als Gotteskämpfer: "Ich rang mit Gott. Er war stark und wollte mich in eine Schlucht hinunterreißen, wo Lähmung, Schuld und Angst auf mich warteten. Als ich die Schlucht sah, erinnerte ich mich blitzartig daran, wie sehr mein Leben einmal von Lähmung, Schuld und Angst bestimmt war. Ich sagte mir: nie wieder - und wurde bärenstark. Mit letzter Kraft stieß ich Gott selbst in den Pfuhl hinab und wurde endlich frei." Bene trovato?
Nun ist Lüdemann nicht der erste Christ und auch nicht der erste staatlich besoldete Theologe, den sein Nachdenken aus seiner Glaubensgemeinschaft herausführt. Etliche sind diesen Weg vorher gegangen - sei es ähnlich medienwirksam wir Lüdemann, sei es mehr im Verborgenen. Und mancher würde es wohl tun, hätte er denselben Mut zu Ehrlichkeit und Konsequenz wie Lüdemann. Auch die Sacheinwände des Göttinger Theologen sind alles andere als neu; sie gehören nicht nur zu den Gemeinplätzen heutiger Christentumskritik, sondern berühren Probleme, mit denen sich Philosophie und christliche Apologetik zumal seit der Aufklärung beschäftigt haben. Das in dem vorliegenden Büchlein erkennbare Vorgehen mutet jedoch erstaunlich an; ja, man möchte schmunzeln über die Naivität, mit der Lüdemann zur Fundierung seiner Theologie (oder was davon übrigbleibt) rekonstruiert, was Jesus "wirklich sagte und tat".