Reich-Ranickis Kanon : Wer soll das alles lesen und warum?
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Bild: F.A.Z.
Marcel Reich-Ranicki erklärt im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, wie die insgesamt 180 Erzählungen in seinen neuen Literaturkanon kamen. Und wer leider draußen bleiben muß.
Marcel Reich-Ranicki erklärt im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, wie die insgesamt 180 Erzählungen in seinen neuen Literaturkanon kamen. Und wer leider draußen bleiben muß.
Im biblischen Sinne ist kanonisch das Wahre und apokryph das Falsche: Muß das nicht auch für den Kanon der Literatur gelten?
Die simple Teilung "kanonisch - apokryph" ist für unseren Kanon nicht anwendbar. Der Hauptgrund: Viele Romane und Erzählungen, beachtliche und auch schöne, konnten nicht aufgenommen werden, weil der Kanon, wollte man keine Grenzen gelten lassen, seinen Sinn eingebüßt hätte. Er würde alle überfordern, vor allem die Leser.
In seiner griechischen Ursprungsbedeutung ist der Kanon die Summe aller Regeln - und kanonisch das Werk, welches diese Regeln einhält. Insofern ist auch der Kanon eine vormoderne Kategorie.
In unserer Zeit hat der Begriff "Kanon" nichts mit Regeln zu tun, wohl aber mit Qualität.
Was unterscheidet Ihren Kanon eigentlich von einer Hitparade?
Hitparade oder Hitliste nennen wir Verzeichnisse der in einem bestimmten Zeitabschnitt beliebtesten oder meistverkauften Musikstücke. Die von mir für den Kanon aufgenommenen Romane und Erzählungen wurden nach ganz anderen Kriterien ausgewählt. Entscheidend war für mich weder die Beliebtheit einzelner Werke noch ihr Verkaufserfolg. Worauf also kam es mir an? Kurz gesagt: Auf den literarischen Wert und auf die Lesbarkeit.
Wenn heute ein einzelner sagt, was kanonisch sei: Maßt der sich nicht eine quasi päpstliche Rolle an? Und hofft auf Gläubige statt auf kritische Leser?
Ich habe mich nie darum beworben, einen Kanon herauszugeben. Vielmehr ist der Insel-Verlag mit einer solchen Bitte an mich herangetreten, und zwar nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen mehrerer anderer großer deutscher Verlage, die sich auf mich als Herausgeber dieses Kanons geeinigt haben. Ob es richtig sei, daß den Kanon ein einzelner macht? Wer denn sonst: eine Jury, eine Kommission, ein Kuratorium? Das wäre nicht realisierbar, und letztlich ist es indiskutabel. Wollen Sie vielleicht, daß ein Theater oder ein Opernhaus von einer Kommission geleitet wird? Ich habe schon einen Kanon-Entwurf gesehen, den eine Kommission verbrochen hat. Der Entwurf ist sinnlos und jämmerlich. Die Frage nach "gläubigen" oder "kritischen" Lesern läßt sich leicht beantworten: Ich arbeite als Kanon-Herausgeber vor allem für gute Leser und für solche, die es werden wollen.
Ist die Inflation der Leselisten nicht ein Niedergangsphänomen? Im Moment, da die Literatur ihrem Ende entgegenblickt, vergewissern sich ihre Freunde noch mal dessen, was davon bleiben soll?
Daß die Literatur ihrem Ende entgegenblickt, ist eine treffende und richtige Feststellung. Nur tut sie dies schon seit über 2000 Jahren. So dürfen wir mit Sicherheit voraussagen, daß sie zu unseren Lebzeiten nicht untergehen wird. Richtig ist auch, daß seit 2001 alle möglichen Buchlisten veröffentlicht werden und seit 2002 ein Kanon-Projekt dem anderen folgt. Das hängt zusammen: 1. mit der von mir im Mai 2001 im "Spiegel" publizierten Liste der Literatur für den Deutschunterricht an den Schulen, und 2. mit dem ersten, den Romanen gewidmeten Teil unseres Kanons, der im Jahre 2002 erschienen ist. In aller Bescheidenheit: Ich bin gewohnt, daß man vieles, was ich tue, nachahmt. Und in einem freien Land sind Nachahmungen nicht verboten.
Goethe, Gotthelf, Hofmannsthal - beweist dieser Kanon nicht erst recht, daß Franzosen und Angelsachsen das Erzählen viel besser können?