Literaturjahr 2022 : Wenn die Eule Drogen vertickt
- -Aktualisiert am
Bild: Illustration Kat Menschik
In der Literatur häuften sich 2022 übersinnliche Elemente: sprechende Tiere, Teufel, Meerjungfrauen. Sollen sie bloß für mehr literarisches Gewicht sorgen? Oder schärfen sie das Bewusstsein für die Wirklichkeit?
Jetzt sprechen die Geister. Und die Eulen. Und die Schatten. Und die Bäume. Und die Meerjungfrauen. Schaut man auf dieses Literaturjahr zurück, dann fällt vielleicht nicht auf den ersten Blick auf, wie übersinnlich und magisch manche Stoffe angehaucht gewesen sind. Anderes drängt sich stärker in den Vordergrund: die vielen Romane beispielsweise, die sich aus den Lebensgeschichten ihrer Autorinnen und Autoren speisen.
Solche autofiktionalen Titel und „Memoirs“ gehören in den Programmen deutschsprachiger Verlage längst zum Standard. Mit einem autofiktionalen Roman, „Blutbuch“, hat auch Kim de l’Horizon in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis gewonnen, als erste nonbinäre Person überhaupt – und könnte aus den extremen Reaktionen darauf, aus dem Jubel bei der Verleihung im Römer wie dem Hass aus dem Netz und den Morddrohungen, direkt das nächste autofiktionale Werk schreiben.
Ähnlich auffällig wie diese Präsenz der Erlebnisliteratur ist in diesem Jahr auch die wachsende Zahl von Wieder- und Neuentdeckungen bislang übersehener Autorinnen der Vergangenheit. Oder die erstmalige Übersetzung von Romanen aus der afroamerikanischen Kultur, von Stimmen aus dem globalen Süden.
Auch der Klimaroman hat seinen Platz gefunden. Und verständlicherweise haben viele Verlage in diesem Jahr auf den Ukrainekrieg reagiert, mit Tagebüchern und Essaybänden. All das hat das Angebot deutschsprachiger Verlage vielfältiger gemacht. Der Einfluss gesellschaftspolitischer Debatten und Konflikte auf die Mischung ist deutlich, ebenso der Druck, da nichts zu verpassen.
Irritierende Signale des Ungewöhnlichen
Gleichzeitig ist aber eben auch eine übersinnliche Strömung in neuen Büchern spürbar. Nicht in dem Ausmaß, dass plötzlich Monster, Drachen oder Untote in Familienromanen und Liebesgeschichten unterwegs gewesen wären.
Es ist beiläufiger. Es ist eher eine Häufung unerklärlicher Ereignisse und Erscheinungen in den Geschichten, die erzählt werden. Irritierende Signale des Ungewöhnlichen. Unterbrechungen im herkömmlichen Lauf der Dinge. Störungen. Als wenn im digitalen Fernsehbild plötzlich Pixel sichtbar werden, weil die Übertragung hakt. Etwas zeigt sich dann kurz, hinter den sichtbaren Dingen, das aber diese Dinge in Bewegung hält.
Und hier wären einige dieser Erscheinungen und Irritationen aus den neuen Romanen dieses Jahres: Da sind die sprechenden Eulen und Schatten in Sven Pfizenmaiers Debüt „Draußen feiern die Leute“ (Kein und Aber), das eine niedersächsische Dorfgeschichte erzählt. Und die rosafarbenen Papageien in Helene Bukowskis Trauma-und-Gewalt-Roman „Die Kriegerin“ (Blumenbar), sie tauchen in Schwärmen immer wieder in einer deutschen Stadt auf wie Vorboten – aber wofür?
Ähnlich ist es auch mit den Libellen, einem Ufo und dem Meteoriten aus dem schillernden Alpenroman von Joshua Groß, „Prana Extrem“ (Matthes & Seitz). Die „Dschinns“ gehören dazu, jene bösen Geister aus der islamischen Folklore, die in Fatma Aydemirs gleichnamigem Roman (Hanser) aus der deutsch-türkischen Geschichte der Familie Yilmaz erzählen.
Und zuletzt, um noch eine markante englischsprachige Übersetzung dieses Jahres zu nennen, die „Meerjungfrau von Black Conch“ (Tropen). Darin erzählt Monique Roffey, die in Trinidad geboren wurde und in London lebt, die Geschichte einer Meerjungfrau, Aycayia, die 1976 aus dem Ozean gefischt und an Land verschleppt wird.
Und wie sich Aycayia danach verändert, Schuppen, Schwimmhäute, ihren Schwanz abwirft, wie sie sich zurückentwickelt zur Frau, die sie einmal war, vor langer Zeit, bevor die Weißen kamen – das erzählt zugleich eine koloniale Unterwerfungsgeschichte der Karibik. Das klingt vertrackter, als es sich dann liest. Roffey beschreibt oft sogar witzig, wie ein Wesen aus dem Mythos ins echte Leben kracht. Und die Menschen damit klarkommen müssen.
All diese übersinnlich angehauchten Bücher sind am Ende Geschichten übers Klarkommen. Man merkt trotzdem an dieser Aufzählung: Nicht alles hier ist gleichmäßig übersinnlich. Aber für sich genommen reichen die atmosphärischen Störungen aus, dass man sofort angespannter liest. Unruhiger. Aufmerksamer. Man wartet darauf, dass sie sich wiederholen, dass die Eulen wieder reden, und hat sich längst, ohne es zu merken, auf die neue Wirklichkeit eingelassen.
Tiefer als banaler Realismus?
Es kann aber auch ein Trick sein, um einem Text größeres literarisches Gewicht zu verleihen, als er hat. Der Münsteraner Literaturwissenschaftler Moritz Baßler, Jurymitglied beim Preis der Leipziger Buchmesse, hat dieses Phänomen in seinem neuen Buch „Populärer Realismus“ (Beck) am Beispiel von Daniel Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“ untersucht. Der mit Versatzstücken des magischen Realismus gearbeitet habe, weil „ja die bloße Existenz des Magischen schon eine gewisse Bedeutungstiefe jenseits eines banalen Realismus garantieren soll“, wie Baßler schreibt. Wer dem Text nicht traut, schraubt noch was exotisch Unheimliches dran, das glänzt, sozusagen.
Die Frage liegt nah, ob auch die aktuelle Strömung des Unwirklichen verwandt sein könnte mit dem magischen Realismus der Achtzigerjahre, als in den Bestsellern von Isabel Allende oder Gabriel García Márquez Tote ihre Familien heimsuchten, Figuren ein zweites Gesicht besaßen oder mit Bäumen reden konnten. Dieser Stil war damals so erfolgreich, dass der englische Schriftsteller Julian Barnes ein Embargo für solche Romane forderte – das war zwar ein Witz, aber trotzdem nicht abwegig.
So dominant ist die übersinnliche Strömung aktuell sicher nicht. Sven Pfizenmaier allerdings hat selbst von magischem Realismus gesprochen, als er nach der sprechenden Eule und den vielen anderen übersinnlichen Pixeln in seinem inzwischen preisgekrönten Dorfroman gefragt wurde. Vielleicht wird an seinem Roman auch nur der Einfluss innovativer Erzählformate wie der Fernsehserie sichtbar. Jedenfalls dürfte die sprechende Eule aus Hannover einiges mit „Bojack Horseman“ zu tun haben, dem sprechenden Pferd aus Hollywood aus der gleichnamigen Zeichentrickserie.
Als sei es das Normalste auf der Welt
Andererseits hilft Einflussphilologie auch nicht wirklich weiter, um zu erklären, warum Eulen bei Pfizenmaier sprechen. Die menschlichen Figuren in seiner Geschichte nehmen es jedenfalls hin, als sei es das Normalste auf der Welt. Und diese neue Normalität einer anderen, bislang so nicht vorstellbaren Gesellschaft bringt einen beim Lesen stärker aus der Fassung als die Vorstellung eines Vogels, der Drogen vertickt. Wie Pfizenmaier es gelingt, das als Alltag in der bundesdeutschen Provinz zu erzählen, ist grandios. Er fügt es unmerklich ein in seine Beschreibung einer Gesellschaft, die aus den Fugen gerät. Was vor allem die jungen Leute merken, weil sie in dieser neuen Realität noch etwas länger leben müssen als die älteren und alten.
Damit kommt man der Frage auf die Spur, welche Funktion die übersinnlichen Momente haben, so unterschiedlich sie auch ausfallen. Sie wirken wie Weckrufe – innerhalb der Romane wie bei denen, die sie lesen. Plötzlich ist man wach. Und muss sich neu sortieren. Da stimmt was nicht. Wie geht es weiter?
In den Romanen von Stephen King, der im September fünfundsiebzig Jahre alt geworden ist und immer noch mindestens ein Buch pro Jahr herausbringt, gibt es immer diesen einen Moment, wenn allen Beteiligten klar wird: Das Monster unterm Bett gibt es wirklich. Wir haben es jetzt alle gesehen. Leugnen zwecklos, verstecken auch. Und diese Erkenntnis erzeugt Gegenwart – in dem Sinne, dass ab diesem Moment alles anders ist, alle das auch verstanden haben und jetzt ihr Verhalten anpassen und ändern müssen. Eine Stunde null.
Monster unterm Bett
Es ist kein Zufall, dass Kings Romane oft soziale Utopien oder Neuanfänge beschreiben. Eigentlich geht es nämlich nicht so sehr um das Übernatürliche, sondern darum, wie die Menschen damit umgehen, sobald es in der Welt und als new normal akzeptiert ist. Und wenn man sich jetzt nur kurz in Erinnerung ruft, wie es im Jahr 2022 um die Akzeptanz des Klimawandels steht und um das entschlossene Handeln, ihn aufzuhalten – dann werden aus solch übersinnlichen Weckrufen in Romanen politische Signale. Planspiele eines Bewusstseinswandels. Äußerst subtil platziert und eingesetzt, wie nur die Literatur das kann.
Aber vielleicht ist es viel einfacher. Vielleicht erinnern diese übersinnlichen Elemente nur daran, wie krass und erstaunlich es sein kann, sich für einen Roman etwas auszudenken, was es noch nicht gab oder nicht geben kann. Und daran, dass autofiktionales Erzählen aus dem eigenen Erleben nicht der einzige Modus sein muss, die Gegenwart von heute wirklichkeitsnah einzufangen. Und dass Authentizität in der Literatur sowieso nie automatisch sinnstiftend ist.
Kim de l’Horizon hat in „Blutbuch“ versucht, beides miteinander zu verbinden, das autofiktionale und das übersinnliche Erzählen – und vom Schreiben selbst oft als „Hexerei“ gesprochen. Auch wenn das nach Esoterik klingt und „Blutbuch“ Momente kaum zu ertragender erzählerischer Prätention hat: Das Risiko, das Kim de l’Horizon mit diesem Debütroman eingegangen ist, hat sich gelohnt, das erzählerische Projekt ist aufgegangen, die Auszeichnung verdient.
Auch Fatma Aydemir war mit „Dschinns“ für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert. Sie lässt einen Dschinn erzählen. Der spricht Figuren der Geschichte direkt an, duzt sie, einmal am Anfang und wieder am Ende. „Dschinns“ spielt im Deutschland der Neunzigerjahre, des mörderischen Rassismus, erzählt von der eingewanderten Familie Yilmaz. Davon, wie die Eltern und die vier Kinder in diesem Deutschland ihr Leben leben wollen. Woran das scheitert. Weswegen es dann doch vielleicht glückt. Es sind nicht nur die feindseligen deutschen Verhältnisse, die es der Familie schwer machen. Es ist auch die familiäre Erblast aus der Türkei. Da gibt es noch ein schreckliches Geheimnis. Menschengemacht.
„Vielleicht sind das die Dschinns“, heißt es einmal, „die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“ Vielleicht gibt es wirklich mehr zwischen Himmel und Erde? Vielleicht wacht und waltet ein Dschinn über den Menschen. Vielleicht ist er nur eine Metapher für die Macht der Tradition. Fatma Aydemirs Roman spielt diese Varianten durch, lässt den Dschinn erzählen, hält aber auch in der Schwebe, ob er nur eine verstellte Erzählstimme ist.
Der Effekt bleibt derselbe, wie bei allen diesen übersinnlichen Romanen: eine gesteigerte Wahrnehmung der Wirklichkeit.