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Michel Houellebecq : Die Macht des Tyrannen

Michel Houellebecq gibt diesen Sommer gern Interviews, aber nicht allen. Inzwischen wagt kaum einer, sich noch mit ihm anzulegen.

          3 Min.

          Ist der Verfasser der „Unterwerfung“ selbst ein Tyrann? Michel Houellebecqs genialer Roman über die Wahl eines muslimischen Präsidenten und die schnelle Islamisierung des Landes danach hat den Nerv nicht nur der Franzosen getroffen wie schon lange kein Buch mehr. Ständig werden neue Rekorde gemeldet: aus Deutschland und Italien, aus den französische Bibliotheken, in denen es das am meisten ausgeliehene Werk ist. Die amerikanische Übersetzung steht unmittelbar bevor. In Paris ist Houellebecq nach dem Winter der Attentate und seiner „Unterwerfung“ der Star des Sommertheaters, in dem er selbst die Strippen zu ziehen versucht.

          Jürg Altwegg
          Freier Autor im Feuilleton.

          Den Startschuss gab die „Revue des Deux Mondes“, 1829 gegründet, die älteste und eine der renommiertesten der französischen Literaturzeitschriften. Vor dem Ersten Weltkrieg betrug ihre Auflage vierzigtausend Exemplare, inzwischen sind es noch fünftausend. Sie hat einen Besitzer, der mit Erfolg Magazine herausbringt, und seit fünf Monaten eine neue Herausgeberin mit eher untypischer Karriere: Bevor Valérie Toranian mit klaren Vorgaben die Leitung der „Revue des Deux Mondes“ übernahm, war sie Chefredakteurin der Frauenzeitschrift „Elle“. Sie hat mit reißerischen Themen und prominenten Interviews – Regis Debray, Michel Onfray, Eric Zemmour – für Aufsehen gesorgt. Zu ihrem Programm gehören auch persönliche Anfeindungen; ein renommierter Islam-Experte wurde als „fanatischer Muslim“ bezeichnet, ein Verleger der Zensur bezichtigt. Aber auch intern sind die Methoden umstritten, mehrere Mitarbeiter haben die Zeitschrift verlassen. Das publizistische Rezept Toranians wird als „intellektuelles Marketing“ empfunden.

          Was Terroristen eint

          Sie hat das erste große Sommerinterview mit Michel Houellebecq bekommen. Es ist das Kernstück eines Dossiers über die „Dichter als Propheten“, in dem Michel Houellebecq mit Chateaubriand, dem vielleicht besten Stilisten der französischen Literatur, und Orwell verglichen wird: „Sie haben alles vorausgesehen.“ Es liest sich wie das Dossier einer Kandidatur für die Académie Française.

          Zu Beginn des Gesprächs verteilt der Schriftsteller Zensuren an seine Kritiker. „Gesamthaft“ hat ihn die Rezeption der „Unterwerfung“ in den Medien „wenig befriedigt“. Mit ein paar Ausnahmen, die er lobend erwähnt. Auf ein paar Seiten geht es um seinen Roman. Das frivole Zitat „Gott will mich nicht“ wurde als Titel über die – wörtlich – „Interview-Beichte“ und auf das Titelblatt gesetzt. Das Attentat auf „Charlie Hebdo“ erfolgte am Tag der Auslieferung, Houellebecq musste die PR-Kampagne abbrechen und lebt seither unter Polizeischutz. „Der Terrorismus und der Militantismus sind Mittel der Sozialisierung“, schwadroniert er: „Es muss sympathisch sein, Momente zusammen zu erleben, starke Momente gegen die Polizei, ein Zusammengehörigkeitsgefühl gegen alle ... Man fühlt sich mehr zusammen, wenn man viele Feinde hat. Das führt zu starken Bindungen, zu intensiven Freundschaften, ja im Falle der Frauen von Dschihadisten sogar zu Liebe.“ In seinen Romanen sind es genau diese Bindungen, die seinen entfremdeten Figuren fehlen.

          Kein Wort zu „Le Monde“

          Auch das Interview im „Figaro-Magazin“ für eine Sommerserie in sechs Folgen fällt dürftig aus. Als „ehrlich und aufrichtig“ hat Houellebecq, dessen Held „zu Hause geblieben wäre“, die Demonstration in Paris empfunden. Auf „Je suis Charlie“ angesprochen, erklärt er: „Das war sicher nicht der beste Slogan der Geschichte. Aber er steht für eine Realität. Die Menschen wollen eine bestimmte Form von Freiheit. Sie wollen sicher sein, dass sie in den Kiosken eine satirische Zeitschrift finden. Die massive Reaktion hat mir Vergnügen bereitet.“ Michel Houellebecq hatte das „Figaro-Magazin“ einst als „torchon“ (Geschmiere) bezeichnet. Daran erinnert genüsslich „Le Monde“. Auch diese Zeitung widmet ihm eine Sommerserie in sechs Folgen. Doch seiner Redakteurin Ariane Chemin hat der Schriftsteller ein Gespräch verweigert – und sie im „Figaro“ angegriffen: Ihr Journalismus sei eine Mischung aus Fakten, relativ plausibler Fiktion und böswilligen Unterstellungen – auf dem Niveau der Klatschillustrierten. Auch verschickte er Mails an Freunde, Verleger, Kritiker, die er davor warnte, mit „Le Monde“ zu reden. Verleumdungsprozesse seien im Übrigen „ziemlich lukrativ“.

          Die Artikelreihe ist gerade angelaufen. Im ersten Teil geht es um Houellebecqs Alltag in einem Wolkenkratzer im Pariser Chinesenviertel. Im zweiten um seine Anfänge, als er für Zeilenhonorar schrieb. „Le Monde“ nennt Namen von Prominenten, die ein vereinbartes Gespräch unvermittelt absagten. Die Journalistin rekapituliert die Lügen im Umgang mit seiner eigenen Biographie (er hatte seine Mutter fälschlicherweise für tot erklärt). Er wird als Tyrann porträtiert, der selbst bestimmt, wer in einer Zeitschrift über ihn schreiben darf. Keiner wage es, sich mit ihm anzulegen, schier grenzenlos sei seine Medienmacht geworden. Das Verhalten des Kulturbetriebs gegenüber seinem Star nennt „Le Monde“ eine „wahrhafte Unterwerfung“.

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