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Serie: Mein Fenster zur Welt : Wie weiterleben nach dem Ende?

  • -Aktualisiert am

Dann wurde es plötzlich ganz, ganz still: Blick aus dem Fenster von Ales Steger Bild: Ales Steger

Ist Dankbarkeit vielleicht die Nachbarin des totalen Entsetzens? Spiegelgedanken aus dem gegenüberliegenden Wohnhausfenstertheater.

          3 Min.

          Wenn ich an meinem kleinem Schreibtisch sitzend durchs Fenster blicke, sehe ich direkt auf die riesige Glasfassade eines Hotels unweit von der Altstadt von Ljubljana. Die Straße ist nicht breit und das Hotel versperrt vollkommen die Sicht. Es ist eine riesige Glaswand, goldgeramte viereckige Theaterschachtel. Für gewöhnlich sehe ich hier, wie Lichter an und ausgehen, sich kleine Bühnenvorhänge zur Seite schieben und das Leben fremder Menschen gewollte oder unfreiwillige Gastspiele gibt.

          Als ich und meine Frau vor zehn Jahren die Wohnung besichtigten, war es dasselbe Fenster, an dem die Eigentümerin stand und melancholisch auf die Straße schaute. Vor siebzig Jahren war sie im selben Zimmer geboren worden. Nachdenklich blickte sie damals nach draußen und sagte: „Nachdem sie das Riesending gebaut hatten, war lange Zeit alles ringsumher ziemlich verkommen, kein Bürgersteig, die Straße ungepflastert. Dann aber kam er und über Nacht hat man alles aufgepeppt und schön gemacht.“

          Ich dachte über die Zeit nach, in der das gewesen sein muss, Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger Jahre, und erwiderte ohne groß zu raten: „ER kam, Sie meinen bestimmt Präsident Tito?“ „Nein“, sagte die einstige Eigentümerin, „ich meine Gagarin, den ersten Menschen im Weltraum.“ Ich habe bis heute nie überprüft, ob die Geschichte stimmt und Gagarin wirklich im Hotel gegenüber nächtigte und sein Besuch für das neue Pflaster ringsherum verantwortlich war, aber schon die Idee, das in alten kommunistischen Zeiten ein kurzer Besuch einer einzigen Person ganze Wohnviertel verändern konnte, wirkt faszinierend und abstoßend zugleich.

          Die ersten paar Jahre nachdem wir in die Wohnung eingezogen waren, stand das Hotel, heruntergekommen wie es war, oft ziemlich leer. Slowenien steckte nach 2008 in einer langen Rezession und das merkte man auch an den seltenen Hotelbesuchern. Dann aber kam – nein, auch diesmal war es nicht Tito, auch nicht Gagarin oder einer der zeitgenössischen Diktatoren, Scheichs oder auf Lebenszeit gewählten Präsidenten. Es war überhaupt keine Einzelperson, sondern die Massen der für uns namenlosen asiatischen Touristen, die für eine Nacht von Tourismusagenturen hierher geschleust wurden, hierher, zum immer populäreren touristischen Geheimtipp auf ihrer Reise von Venedig nach Dubrovnik. Der kleine, einst verschlafene Parkplatz vor dem Eingang des Hotels war auf einmal voll mit Tourbussen. Wir mussten das Fenster von nun an verschlossen und verhängt halten, wegen des Lärms, der Auspuffgase, der schau- und fotolustigen Gesichter, die, so wie wir, ihrerseits ein paar Souvenirs in Form von Einblicken ins echte, wahre und ganz private Schauspiel der auch in Ljubljana immer seltener anzutreffenen Spezies der Eingeborenen im gegenüberliegenden Wohnhausfenstertheater einfangen wollten.

          Dann wurde es viel, viel ruhiger

          Es war wieder eine Zeit, wo man alles schöner und der Schaulustindustrie gefälliger machen musste. Man riss die Straße zwischen uns und dem Hotel auf, buddelte nach römischen Gräbern, fand sogar ein paar Steine und Fibeln, legte neue, größere Kanalisationsabflussrohre, und schüttete alles so schnell wie möglich wieder zu. Zugleich renovierte man innen das Hotel, man baute ein Café mit Terrasse gerade gegenüber, so dass man auch bei geschlossenen Fenstern nachts den chinesischen, irischen und italienischen Gesängen der Besoffenen zuhören konnte. Der Laden boomte einige Jahr. Dann wurde es auf einmal viel, viel ruhiger. Ich ging ins Hotelcafé Espresso trinken. Der einsame Rezeptionist, mit dem ich plauderte, sagte: das Wegbleiben der Chinesen können wir vielleicht noch verkraften, wenn uns aber auch die italienischen Gäste wegbleiben, sind wir erledigt. Seit sechs Wochen ist das Hotel jetzt offiziell tot. Ich kann nicht umhin, jeden Tag aufs Neue den Kadaver zu betrachten. Man braucht nicht lange, um festzustellen, dass erst der Tod des Hotels aus seiner Glasfassade etwas Lebendiges machte. Anstelle weiterhin ein gelangweilter Voyeur der unbekannten Besucher zu sein, die die Vorhänge zur Seite ziehen, tagträumend durchs Fenster blicken, sich schminken, streiten, sich aus-und anziehen oder nur ganz einfach fernsehen, schaue ich nunmehr in die immer klarere Spiegelung meines eigenen Fensters, die die todstille Glasfassade des Hotels spiegelt.

          Vielleicht habe ich zehn Jahre auf diesen Moment warten müssen, wo nichts, keine Ablenkung und keine Ausrede mehr mich beschützt vor dem Blick auf mich selbst, auf uns, die Eingeborenen, die wir in unseren Wohnungen gefangen auf das Weiterleben nach dem Ende des Nachdenkens warten. Es ist nicht leicht, dem eigenen Blick auf sich selbst und die eigene Misere standzuhalten, es ist viel schwieriger als wir es uns anfangs beschönigend vorgestellt haben. Es ist nicht leicht, nicht wegzuschauen, nicht in den Computerbildschirm oder in ein Glas Whisky oder Wein zu flüchten.

          Der slowenische Lyriker Ales Steger
          Der slowenische Lyriker Ales Steger : Bild: Getty

          Ich schaue und sehe, wie ich schaue und worauf ich schaue und empfinde dabei zugleich Ehrfurcht, Schrecken und Dankbarkeit. Dass es inmitten einer Pandemie für alles so etwas wie ein Gefühl der Dankbarkeit gibt, für wirklich alles, was mit einem geschieht und geschehen mag – es mag angesichts der vielen Opfer und Entbehrungen seltsam klingen. Zugleich ist aber gerade dieses in sich widersprüchliche Dankbarkeitsgefühl (das Nachbargefühl des totalen Entsetzens?) in diesen Zuständen die einzige Basis, in der ich inmitten von menschenleeren Straßen und schön herausgeputzten Ruinen von morgen, hinter meinem kleinen Schreibtisch sitzend, unserer Zivilisation ins Auge blicken und über so etwas wie eine sehr vage Ahnung vom kommenden Tag nachsinnen kann.

          Von Aleš Šteger, Jahrgang 1973, erschien auf Deutsch zuletzt der Gedichtband „Über dem Himmel unter der Erde“ (2019).

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