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Literatur zum Gedenkjahr : Beginn einer neuen Epoche der Weltkriegsgeschichte

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Das Gotteshaus als Ort der Kriegsverwaltung: Feldkanzlei der k.u.k. Armee in einer russischen Kirche in Ostgalizien, aufgenommen 1916. Bild: ÖNB/Wien, K 6016-C

Christopher Clark, Herfried Münkler, schön und gut - aber das wichtigste Buch zum Ersten Weltkrieg legt Jörn Leonhard mit „Die Büchse der Pandora“ vor. Es ist unübertrefflich.

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          In der anschwellenden Flut von Literatur über den Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch vor hundert Jahren als Auftakt der „Urkatastrophe“ des zwanzigsten Jahrhunderts ins Gedächtnis gerufen wird, gibt es sehr unterschiedliche Leistungen und Tiefpunkte. Bisher bietet der in Cambridge lehrende australische Historiker Christopher Clark mit seinen „Schlafwandlern“, derzeit schon in der dreizehnten Auflage, eine lohnende Geschichte der internationalen Beziehungen vor dem Herbst 1914. Doch die Proportionen von Clarkes Text stimmen nicht. Hundert Seiten über Serbien und seine gefährliche Terrorismusszene folgen längere Kapitel über Frankreich, Russland und England, während ein eigener, ausführlicherer Teil über die Berliner Entscheidungsprozesse, deren Folgenreichtum bekannt ist, fehlt.

          Man gewinnt den Eindruck, dass sich Clark partout von der Fischer-Kontroverse der sechziger Jahre so weit wie möglich distanzieren möchte. Zu dieser Position passt auch, dass er die methodisch immer lohnende Frage nach den „Non-Decisions“, nach den schwerwiegenden Folgen nicht getroffener Entscheidungen, nirgendwo konsequent verfolgt.

          Clark verkennt den deutschen Verursachungsanteil

          Wozu hätte eine aufrechte, auf Friedenswahrung abgestellte England-Politik Bethmann Hollwegs geführt? Wohin eine entschieden bremsende reichsdeutsche Politik? Warum konnten die beiden Balkankriege im Vorfeld von 1914 vom europäischen Staatensystem aufgefangen werden, während das mit dem dritten von deutscher Seite nicht ernsthaft versucht wurde?

          Durch sein Vorgehen verwischt Clark verblüffend einseitig den massiven deutschen Verursachungsanteil an der fatalen Konstellation, die zum Krieg geführt hat. Dem beschönigenden Kommentar des englischen Politikers Lloyd George aus den zwanziger Jahren, alle Staaten seien letztlich in das Unheil „hineingeschlittert“, wird zielstrebig zu neuer Geltung verholfen. Und der Verkaufserfolg auf dem deutschen Büchermarkt - keineswegs auf dem englischen! - verrät ein tiefsitzendes, jetzt wieder hochgespültes apologetisches Bedürfnis, sich von jenen Schuldvorwürfen zu befreien, die in der Kontroverse um das Kriegszielbuch des Hamburger Historikers Fritz Fischer („Griff nach der Weltmacht“, 1961) allenthalben verfochten worden waren.

          Das gleichzeitig erschienene Buch des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler wird der intensiven Debatte über den Weltkrieg nicht von ferne gerecht. Offenbar muss man sich mit der einen gewaltigen Umfang erreichenden Forschungsliteratur ganz anders vertraut machen. Übrigens ist die strenge Deutschland-Zentriertheit seines Buchs den weitgespannten globalen, vergleichenden Perspektiven von Leonhard krass unterlegen. Münklers penetrante Kritik an Fischer bezeugt zudem die Verständnislosigkeit, mit der er dessen Leistung begegnet, jahrelang mit imponierender Zivilcourage als einziger deutscher Neuzeithistoriker die Kritik an der Julikrise 1914 und an den Kriegszielplänen bis 1918 - sowie an den damals nur zu oft verschwiegenen Kontinuitätslinien bis 1945 - pointiert vertreten zu haben.

          Glanzstück zur Kriegsgeschichte

          Doch glücklicherweise ist soeben die glänzende Analyse „Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs“des Freiburger Historikers Jörn Leonhard erschienen, die in einem umfangreichen Konvolut von 1150 Seiten ein wahrhaft umfassendes Panorama des Ersten Weltkriegs, seiner Vorgeschichte und seiner Ursachen, seines Verlaufs und seiner Folgen präsentiert. Alle Historiker wissen, dass sie das theoretische Ziel einer „Totalgeschichte“ wegen des ihnen nur vergönnten partiellen Erkenntnisgewinns nie erreichen können. Doch Leonhard kommt dieser totalgeschichtlichen Zielutopie erstaunlich nahe.

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