Wie die Vielsprachigkeit die Ukraine prägt
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In Krisenzeiten kann Mehrsprachigkeit missbraucht und falsch ausgelegt werden. Die Literatur der Ukraine verdankt einiges der Vielsprachigkeit. Dies ist ein großer gesellschaftlicher Gewinn.
In dem autobiographischen polnischen Text „Im Tal des Dnjestr“ aus den Vierzigerjahren schreibt der Literaturkritiker Jerzy Stempowski, er sei 1894 in einer polnischen Familie in der Ukraine aufgewachsen und dieser Satz sei aufgrund eines anderen Verständnisses von nationaler Zugehörigkeit nunmehr erklärungsbedürftig: Statt einsprachiger „sprachlicher Festungen, Mauern und Schanzen“ habe man im östlichen Europa lange Zeit nur „ein einziges großes Schachbrett der Völker, voll von Inseln, Enklaven und den seltsamsten Kombinationen von gemischten Völkern“ gekannt, jedes Dorf, jede soziale Gruppe oder Berufsstand habe „eine andere Sprache“ verwendet. Stempowski adressiert hier mitten im Zweiten Weltkrieg ein einsprachiges westeuropäisches Publikum, das mit den multilingualen Regionen in Ostmitteleuropa kaum noch vertraut war.
Wir verstehen Mehrsprachigkeit und Vielfalt heute wieder als gesellschaftlichen Gewinn, in Bezug auf die Ukraine scheint man aber dem alten Einsprachigkeitsgebot für Nationalstaaten zu folgen, bei dem der Anspruch auf Staatlichkeit daran gemessen wird, ob die Sprache, die dem Land seinen Namen gibt, dominant ist. Gibt es gar eine zweite, konkurrierende Sprache mit hohem Bekanntheitsgrad, droht die Abwertung zum Dialekt. Belarussisch und Ukrainisch wurden deshalb wiederholt als Dialekte des Russischen bezeichnet. Dabei hatte der Jiddist Max Weinreich einmal sarkastisch daran erinnert, dass der Unterschied zwischen Sprache und Dialekt nur darin bestehe, dass „eine Sprache ein Dialekt mit einer Armee und einer Flotte“ sei.
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