Gespräch mit Elisabeth Ruge : Guter Stil hat eine geradezu tröstliche Qualität
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Wichtige Bücher erzählen vielleicht von einem bestimmten historischen Zeitpunkt, aber ihre Bedeutung erschöpft sich nicht mit der vergehenden Zeit: Elisabeth Ruge. Bild: LAIF
An drei großen Literaturpreisen war Elisabeth Ruge in dieser Saison beteiligt: am Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch, am Buchpreis für Frank Witzel und am Goncourt für Mathias Énard. Ein Gespräch über das Gespür für die wichtigen Bücher.
Frau Ruge, Sie haben in Ihren verschiedenen Funktionen als frühere Verlegerin und heute Agentin gerade drei wichtige Literaturpreise sozusagen mitgewonnen: den Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch, die Sie ins Deutsche haben übersetzen lassen, den Buchpreis für Frank Witzel, für den Sie als Agentin einen Verlag gefunden haben, und zuletzt auch den französischen Prix Goncourt für Mathias Énard.
Und im Frühjahr den Preis der Leipziger Buchmesse für Jan Wagner.
Stimmt, aber bleiben wir mal bei dem jüngsten Preisträger Mathias Énard. Sein Roman „Zone“, der 2010 als erstes seiner Bücher ins Deutsche übersetzt wurde, ist ein gut fünfhundert Seiten dickes Buch über eine Odyssee durch den Mittelmeerraum – geschrieben wie ein langer Gesang, mit Verzicht auf jede Interpunktion. Das Buch ist wunderbar, aber weder leicht zu lesen noch leicht zu verkaufen. Warum haben Sie sich damals dafür entschieden?
Das habe ich beim Berlin Verlag zusammen mit Delf Schmidt entschieden, das muss ich gleich sagen. So ist es bei mir immer gewesen. Ich glaube, dass es beim Setzen und Erkennen von wichtigen Büchern stark darauf ankommt, wie man kommuniziert, wie man sich auf die anderen im verlegerischen Prozess einlässt.
Aber wie erkennt man ein wichtiges Buch unter Hunderten Manuskripten?
Das ist schwer zu sagen. Es hat viel mit Intuition zu tun – das klingt ein bisschen klischeehaft und nach einer Platitude. Es ist aber so. Es ist fast ein seltsames Gefühl, das sich einstellt. Man spürt einfach, dass jemand etwas Wichtiges zu erzählen hat.
Wichtig in welchem Sinn?
Wichtig, weil das Buch zwar von einem bestimmten historischen Zeitpunkt erzählt, seine Bedeutung sich aber nicht mit voranschreitender Zeit erschöpft. Wenn ich beispielsweise an die „Zinkjungen“ denke, das erste Buch, das ich von Swetlana Alexijewitsch gemacht habe, dann war zwar entscheidend, dass sie auf den ersten Krieg in Afghanistan und auf seine Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Einzelnen in der damaligen Sowjetunion blickte. Aber sie tat das auf eine Weise, die mir etwas über das bestimmte historische Ereignis hinaus zu verstehen gab. Pathetisch würde man sagen, da ist eine höhere Wahrheit.
Können Sie versuchen, das zu präzisieren?
Es ist die Darstellung einer allgemeineren existentiellen Erfahrung, entwickelt aus einem präzis beobachteten historischen Augenblick. So ist es auch in Alexijewitschs Buch „Tschernobyl“, in dem es um die Reaktorkatastrophe geht, aber darüber hinaus auch um die Unfassbarkeit des apokalyptischen Geschehens: Sie erzählt, wie die Menschen in einem kleinen ukrainischen Dorf auf ihre Apfelbäume schauen, an denen schöne rote Äpfel hängen, und wie sie auf ihre Haustiere und den blühenden Garten blicken, auf ihr ganzes bisheriges Leben – und dann gesagt bekommen, das ist alles giftig, ihr müsst hier weg! Alexijewitsch hat das die „Chronik einer Zukunft“ genannt. Wir bekommen etwas erzählt, was wir eigentlich gar nicht verstehen können, weil es jenseits unseres Vorstellungsvermögens liegt.
Swetlana Alexijewitsch ist nach dem Nobelpreis vorgeworfen worden, eher journalistisch als literarisch zu arbeiten.
Das ist Blödsinn! Was sie macht, ist, lange, ausführliche Gespräche führen und dabei jenes Material sammeln, das sie dann über viele Jahre literarisch formt. Da ist ein Grad von Verdichtung erreicht, der eine fast altertümelnde Kraft hat. Es hat etwas von einem Mysterium. Aber das zeichnet große Literatur immer aus. Sie kennen das sicher selbst: Wenn Sie ein großes Buch lesen, dann bewegt Sie das auf eine Weise, die Sie nicht ganz beschreiben können.
Ob man ein Buch als groß empfindet, ist sehr subjektiv, es ist häufig auch einfach Geschmackssache. Lässt sich Geschmack trainieren, ausbilden, verfeinern? Und wenn ja, wie?
Vor allem durchs Lesen. Gute Texte erkennt man nur, wenn man zuvor bereits viele gute Texte gelesen und dabei allmählich einen eigenen Katalog an Kriterien entwickelt hat.
Geschmacksfragen sind immer auch Stilfragen. Welche Rolle spielt der Stil?