Krimi „Fremdland“ : Wir prügeln in Berlin
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Stets um Präzision bemüht: Philipp Reinartz’ Kommissar ermittelt nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Vergangenheit seines eigenen Vaters – die dunkle Flecken aufweist.
Die deutsche Hauptstadt des Verbrechens ist im wirklichen Leben Frankfurt am Main, im fiktiven jedoch Berlin. Zu den noch jungen Ermittlern gehört seit dem vorletzten Jahr Jerusalem Schmitt, Leiter der Neunten Mordkommission in der Berliner Keithstraße. Die Neunte ist zuständig für besondere Fälle, und weil „Jay“, wie ihn alle nennen, recht erfolgreich ermittelt, hat er obendrein einen schicken Verhörraum bekommen, den er aber lieber als Büro nutzt. Ein Privatleben hat er auch, und das läuft natürlich nicht so gut. Seine für das LKA arbeitende Freundin Sonya Mainitz hat sich in eine Frau verliebt und ihn verlassen, was den Kommissar nicht davon abhalten kann, in diesem Fall mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie ist die Einzige, der er (immer noch) vertraut, was auch andeutet, dass es mit den Loyalitäten – jenseits seiner Eltern – nicht gut bestellt ist.
In einem Altersheim wird eine beinahe hundertjährige, sangeslustige Greisin um die Ecke gebracht. Am Tatort bleibt ein Zettel mit einem Rätsel zurück, das man so deuten könnte, als hätte der Täter noch mehrere Morde im Sinn. Mit Hochdruck analysieren die Kriminaler die aus bekannten Liedzitaten kompilierte Botschaft bei gleichzeitiger Überprüfung sämtlicher Berliner Todesfälle, die womöglich nicht so natürlich waren wie vom Amtsarzt bestätigt.
Das ist aber nur eine der Zeitebenen, auf denen der 1985 geborene Philipp Reinartz seinen zweiten Roman mit Jerusalem Schmitt ansiedelt. Die erste spielt in den neunziger Jahren und erzählt vom Schicksal eines aus dem Senegal geflüchteten Paares, Mouhamadou und Aissa Diallo, das die volle Härte der polizeilichen Willkür erlebt – er wird als Kleindealer hochgenommen, gefoltert und verschleppt. Zeitgeschichtlicher Hintergrund sind die Hamburger Polizeiskandale von 1994. Die Parallelen zur Gegenwart sind überdeutlich. Ebenfalls in diesen Jahren kreuzen sich die Lebenslinien der Diallos mit jenen von Jays Vater, der damals Polizist war. Er hatte einem Kollegen eine Trunkenheitsfahrt durchgehen lassen und anschließend die Akte manipuliert; was nun seinem Sohn auf die Füße fällt, der herausfinden will, warum sein – von ihm durchaus verehrter – Erzeuger damals so handelte. Und das mögen Polizisten nicht so gern, wie Jay alsbald feststellen wird.
Beide Erzählstränge laufen in temporeich gebauten Rückblenden bis in die Gegenwart der Handlung, wo sie sich kunstvoll mit dem Seniorinnenmord verweben. Dennoch hat man bisweilen den Eindruck, Reinartz treibe es mit der Schnitt-Technik bis an den Rand der Überkonstruiertheit. Wenn die Sache am Ende dennoch aufgeht, liegt das daran, dass Reinartz ein um sprachliche Präzision bemühter Autor ist, der erkennbar gestalten will – etwa, indem er den gerade für das Genre Kriminalroman fundamentalen Unterschied zwischen „scheinbar“ und „anscheinend“ herausarbeitet: „Er saß mit verschränkten Armen zwischen den Kollegen und versuchte vergeblich, vor- und zurückzuwippen, was die starren Konferenzraumstühle nie zuließen. Leute, die scheinbar und anscheinend synonym verwendeten, machten ihn nervös.“ Mit Jay Schmitt ist Philipp Reinartz eine bemerkenswert quer zum Geläufigen stehende Ermitttlerfigur gelungen.