Boom des True-Crime-Genres : Verbrechen lohnt sich doch
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Brudermord: Josefine Preuß und Louis Hofmann in der Schirach-Adaption „Schuld“. Bild: ZDF und Julia Terjung
Das Leiden der anderen: Das True-Crime-Genre boomt in Serien, Filmen, Magazinen und Podcasts. Was sagt das über unsere Gesellschaft?
An einem warmen Mittwochabend im Mai steht der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach, gekleidet mit Frack und Fliege, auf der Bühne des Berliner Ensembles und verbeugt sich – ihm donnert ein von Ergriffenheit befeuerter Applaus entgegen, viele stehen auf, Bravo-Rufe ertönen, manche haben beinahe Tränen in den Augen.
Zwei Stunden lang hat er sich regungslos an einem Rednerpult festgehalten und aus seinem Œuvre vorgetragen, insgesamt vier Geschichten über Verbrechen, Schuld und Moral, wie immer bei Schirach. Der Musiker Malakoff Kowalski spielte zwischen den Episoden leise, anmutige Stücke am Piano, es machte das Ganze umso mehr zu einer Andacht. Im Publikum war es stockfinster, nur ein wenig Licht regnete auf die Bühne.
Ferdinand von Schirach, so hatte es den Anschein, war an diesem Abend zu den Sterblichen heruntergefahren, um sie durch die Nacherzählung menschlicher Abgründe und Tragödien mit sich selbst zu versöhnen. Dafür waren sie alle gekommen, dafür hatten sie sich von Schirachs raunendem Pathos die Seele streicheln lassen, dafür ließen sie sich am Ende ihre mitgebrachten Schriftstücke signieren und die Hand schütteln. Sie erwarten viel von ihm.
Remix aus Fiktion und Wirklichkeit
Im März hat er den dritten Band seiner kriminalistischen Kurzgeschichten, er nennt sie „Stories“, herausgebracht – mehrere Wochen lang war er mit „Strafe“ auf Platz 1 der Bestseller-Listen. Wie schon in den Vorgängerbüchern „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) remixt Schirach darin so gekonnt seine Erlebnisse aus mehr als siebenhundert bearbeiteten Fällen als Strafverteidiger mit den Möglichkeiten der Fiktion, dass am Ende kaum noch jemand einen Unterschied dazwischen machen will.
Da Schirach dieses Spiel ganz bewusst betreibt – oft schreibt er sich selbst als Ich-Erzähler in die Geschichten und scheut selbst Exkurse ins Privateste nicht –, muss man ihn wohl Deutschlands erfolgreichsten True-Crime-Autor nennen.
Voyeuristischer Nervenkitzel des Authentischen
Schaut man sich den Boom dieses Genres in den vergangenen Jahren an, dann scheint Schirach auf das richtige Pferd gesetzt zu haben. Egal ob in Podcasts, bei Netflix, im klassischen Fernsehen oder in Magazinen und Büchern, überall schießen die minutiös bis ins kleinste, abstoßendste Detail nacherzählten, aufwendig recherchierten und glänzend aufbereiteten Kriminalgeschichten aus dem Boden.
Beliebt als Ausfluchten aus der Langeweile des Alltags waren Krimis und Thriller natürlich schon immer, doch erst seit die Erzähltechniken im Dokumentarischen filmisches Niveau erreicht haben, ohne dabei den voyeuristischen Nervenkitzel des Authentischen zu verlieren, erst seitdem sind True-Crime-Formate zu einem irren Erfolgsmodell geworden. Wenn Schirach mit seiner bisweilen an Jürgen Todenhöfer erinnernden, bedeutungsschweren Diktion vorliest – und er liest toll vor! – und dabei von mordenden Ehemännern und vergewaltigenden Horden berichtet und davon, wie es dazu kommen konnte, dann aktiviert er die gleichen Auslöser des Unfassbaren und Unerhörten. Doch erst in der Berührung mit dem Echten, dem Tatsächlichen löst es beim Zuhörer diese starken Affekte aus.
Über 50 Millionen Abonnenten
Es ist der verführende Zauber des Genres, das so viel mehr will, als einfach nur unterhalten – es will durch einen Blick in den Abgrund die fragile Seele des Menschen erkunden und die ganz großen Fragen beantworten. Wie konnte es, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Truman Capotes genrebegründendem nonfiktionalem Roman „Kaltblütig“ („In Cold Blood“, 1965), dazu kommen?
Schuld ist wie immer das Internet: Der erste große True-Crime-Podcast „Serial“ startete 2014 mit einer zwölfteiligen Serie über einen Highschool-Mord aus dem Jahr 1999. Heute hat der Podcast, man halte sich fest, mehr als fünfzig Millionen Abonnenten. Die Recherchen dazu gingen so intensiv in die Materie, dass die Gerichte den Fall am Ende der Staffel noch einmal aufrollen mussten – eine Art Hyperrealität, mit Rückwirkungen ins echte Leben. Ein anderer, über die Maßen erfolgreicher Podcast der letzten Jahre trägt sein Programm schon im Namen, er heißt: „This Is Actually Happening“.
Spätestens im Anschluss an den Erfolg von „Serial“ setzte auch Netflix massiv auf das Thema True Crime, zeigte oder produzierte erfolgreiche Dokumentationen über die Fälle O. J. Simpson, Amanda Knox oder Josef Fritzl, griff aber eben immer wieder auch unbekannte Fälle auf. So erzählte die zehnteilige Doku-Serie „Making a Murderer“ die tragische Geschichte des gleich mehrfach zu Unrecht verurteilten Steven Avery ausnehmend lang und weitschweifig – trotzdem wollten es alle sehen.
Auch hier riefen die bei der aufwendigen Recherche neu erbrachten Erkenntnisse heftige Reaktionen in der Realwelt hervor, Petitionen wurden unterschrieben, sogar Barack Obama sah sich zu einem Statement genötigt. Avery sitzt noch immer im Knast.
Das Erbe Dostojewskijs
Bei so viel Welt- und Menscherklärung ist es kaum verwunderlich, dass sich aus dem Genre heraus zuletzt vermehrt so etwas wie politisches Pathos entwickelte. Die „New York Times“ verstieg sich zu Beginn der Woche zu einem Vergleich mit Dostojewskij, nur weil der offenbar auch mal was mit Schuld und Sühne gemacht hatte. Wie einst der große Schriftsteller, hieß es da, so rücke True Crime endlich wieder die Würde des Menschen in den Mittelpunkt, mache Ambivalenzen bei der Beurteilung von Gut und Böse sichtbar. Ganz schön hohe Erwartungen an ein Unterhaltungsformat.
Es ist unbestritten, dass gut recherchierte Dokumentationen wie „Making a Murderer“ eklatante Missstände zum Vorschein bringen können: übertriebene Polizeigewalt, juristische Willkür, Rassismus. Doch ist es mit dem schnellen Unterschreiben von Online-Petitionen und einer kurzen Empörung in der Regel nicht getan, zu groß und verführerisch ist die Verlockung, sich nach dem Ende der einen Geschichte unmittelbar der nächsten zu widmen.
Warnung vor Sättigung
Netflix setzte im Jahr 2017 rund zwölf Milliarden Dollar um – ein explizit politischer, ja aufklärerischer Ansatz sollte da mit Vorsicht zu genießen sein. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Publizistin Susan Sontag, die dem aufklärerischen Potential authentischer Gewaltdarstellung skeptisch gegenüberstand. In ihrem 2003 erschienenen Essay „Das Leiden anderer betrachten“ warnte sie, bei aller Dokumentationspflicht, vor einer Routine des Entsetzens: „Fernsehbilder sind per definitionem Bilder, derer man früher oder später müde wird. Die Grundhaltung des Konsumenten ist die Erschlaffung.“
Noch aber ist diese Erschlaffung nicht eingetreten, im Gegenteil. Angebot und Nachfrage wachsen, auch in Deutschland. Seit 2015 schon bringt der „Stern“ mit dem Magazin „Crime“ eine eigenständige, erfolgreiche Publikation zu dem Thema heraus. Auf der Homepage lernen wir dazu Zentrales über die Zielgruppe: „Sie lieben den Nervenkitzel und interessieren sich gleichzeitig für den psychologisch-sozialen Kontext realer Verbrechen. Insbesondere Frauen wissen diesen subtilen Gruselfaktor zu schätzen.“ Ein Frauenthema also?!
Zeitungen steigen ins True-Crime-Geschäft ein
Auch die „Zeit“ hat dieses Potential nun erkannt. Anfang Mai erschien die Pilot-Ausgabe eines 120-seitigen Hochglanzmagazins namens „Verbrechen“. Untertitel: „Blick in den Abgrund – Echte Kriminalfälle aus Deutschland“. Das Magazin ist extrem hochwertig gemacht, sogar der Fotokünstler Andreas Mühe steuerte eine sehr sehenswerte Strecke zum Thema Polizeihunde bei (Titel: „Berufstätige Hunde“), und da man mit True Crime derzeit kaum etwas falsch machen kann, wird es wohl nicht die letzte Ausgabe gewesen sein. Seit einigen Wochen schon gibt es auf „Zeit Online“ auch den entsprechenden Podcast. Herausgeberin Sabine Rückert, langjährige Gerichtsreporterin der Wochenzeitung, widmet sich hier noch mal ausführlich den brisantesten Fällen.
Es ist wohl die älteste Frage des Menschen, die wir in den ungezählten Ausprägungen dieses Genres derzeit gestellt bekommen, schon die Genesis versuchte sich ja an einer ungelenken Antwort auf die Frage, wie das Böse in die Welt kam. Der Mensch ahnte schon immer, dass er womöglich selbst nicht ganz unbeteiligt daran ist und dass es bisweilen gar nicht so viele unglückliche Umstände braucht, um selbst schuldig zu werden. Davon erzählen im Grunde all diese Geschichten in ihren guten Momenten. Die Erkenntnis ist denkbar simpel: Das da könntest du sein! Und im besten Fall entsteht daraus so etwas wie Demut.
Kann Unterhaltung die Gesellschaft reparieren?
Aber ist diese Flut des Authentischen schon Anzeichen für eine Krise der Fiktion? Schließlich liegt die Zahl der derzeit verfügbaren Formate mittlerweile weit über dem, was ein normaler Bürger in seinem Leben überhaupt hören oder sehen kann.
War es nicht sehr lange Zeit die Literatur, die Utopien und neue Menschenbilder entwarf? Einmal zu diesem Thema befragt, erklärte Ferdinand von Schirach im Interview, die minutiöse Nacherzählung eines Tathergangs, besonders vor Gericht, sei essentiell für das Fortbestehen von Recht und Ordnung, erst die Nacherzählung „beruhige“ die Gemeinschaft. Nun zählt Beruhigung nicht gerade zur primären Aufgabe der Kunst, man denkt da doch eher an ästhetische Erschütterung, Wagemut oder Vision. Und suspendiert man nicht eigene Anstrengungen und Verantwortung, wenn man von einem reinen Unterhaltungsgenre die Reparatur der Gesellschaft bei gleichzeitiger Erziehung des Herzens erwartet?
Gedicht von 1463 bringt es auf den Punkt
Vielleicht hilft es ja, einen Schritt zurückzutreten und sich an die widerstreitenden Lehren aus dem Urtext zu erinnern, als den man „Kaltblütig“ bezeichnen kann. Lange vor Netflix und dem Internet setzte Capote mit der ungemein verdichteten Geschichte eines bestialischen Vierfachmordes in Kansas den bis heute gültigen Maßstab für nonfiktionales Erzählen von Kriminalgeschichten. Der Versuch war zwar schon damals nicht frei von konkretem politischem Engagement, Capote sah den Text auch als Plädoyer gegen die Todesstrafe, doch war jeder einzelne Satz von einer ästhetischen Wucht, die in der Lage ist, den Menschen zu erschüttern, viel mehr als die inflationär dargereichte Leichenfledderei aus der Forensik.
Capote stellte dem Roman François Villons „Ballade von den Gehenkten“ voran. Der Lyriker hatte sie 1463 in seiner Todeszelle in Erwartung seiner Hinrichtung am Galgen gedichtet:
„Ihr Menschenbrüder, die ihr nach uns lebt / Verhärtet euer Herz nicht gegen uns / Denn wenn ihr Mitleid mit uns Armen habt / Wird Gott euch umso eher gnädig sein.“ Damit war schon vor fünfhundert Jahren alles gesagt.