Schwedenkrimi von Anna Ihrén : Vierundzwanzig Messer
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James Bond lässt grüßen: Bei Anna Ihrén flitzen die Figuren vor den Gletschern Spitzbergens auf Schneemobilen herum, hier sitzen Wissenschaftler des deutschen Alfred-Wegener-Instituts in einem Motorboot. Bild: dpa
Dennis Wilhelmsons zweiter Fall: Anna Ihrén geht auf Ermittlungsfahrt nach Spitzbergen und spielt mit den Gepflogenheiten des Provinzkrimis.
Alle hier erinnern sich an den Eiswinter von 1942, er ist auf der Insel Smögen an der schwedischen Westküste geradezu ein identitätsstiftender Mythos. Jetzt fallen die Temperaturen zum ersten Mal seit jenem Jahr wieder auf fast minus dreißig Grad, und es verschwinden zwar nicht mehr ganz so viele Fischer auf dem Eis wie noch vor siebzig Jahren, aber dafür liegt ein Wissenschaftler tot auf seinem Forschungsschiff. Der renommierte Ozeanograph Kaj Malmberg, dessen Leiche an einen Igel erinnert: Vierundzwanzig Messer stecken in seinem Rumpf.
„Tod eines Eisfischers“ ist der zweite Fall des Ermittlers Dennis Wilhelmson, der nach seinem Karrierestart beim Göteborger Sondereinsatzkommando in die Provinz versetzt wurde. Auf die kleine Schäreninsel, nur ein paar Kilometer südlich von Fjällbacka, wo die Krimis von Camilla Läckberg spielen. Im Sommer tummeln sich die Badeurlauber, im Winter bleiben nur die, die ohnehin lieber unter sich sind. Hier muss Dennis nun den Dorfpolizisten mimen, sich an die Inselbewohner halten, die das Land und seine Leute besser kennen als er.
Clever aufgezogene Mikrosoziologie
Die schwedische Bestsellerautorin Anna Ihrén jongliert in „Tod eines Eisfischers“ mit einem enormen Figurenensemble: Neben Dennis und seiner Kollegin Sandra sind eine Handvoll weiterer Polizisten in den Fall involviert, dazu die Angehörigen des Opfers und die Besatzung an Bord der „Idun“, Dennis’ eigene Familie und ein paar weitere Insulaner. Doch was zunächst das Fassungsvermögen zu sprengen droht, erweist sich als clever aufgezogene Mikrosoziologie. Flink die Perspektiven wechselnd, arbeitet Ihrén die Hintergründe der Figuren auf und nimmt dafür gern in Kauf, dass es mit der Aufklärung des Mordes lange Zeit nicht so recht vorangeht.
Selbst die Ermittler packt der Fall erst so richtig, als drei Viertel der Seiten schon gelesen sind; vorher schlagen sie sich nebenbei mit Verflossenen und den Vorbereitungen zu einer Hochzeit herum. Aber das spricht gar nicht gegen „Tod eines Eisfischers“. Wenn sich auch nicht jede Nebenhandlung zwingend notwendig anfühlt, nicht jeder Faden nahtlos anknüpft, nicht jede Verwirrtaktik aufgeht, wird Ihrén doch einem unbestreitbaren Reiz des Provinzkrimis gerecht: Ausgehend von sehr spezifisch historischen, kulturellen, geographischen Charakteristika, bekommt sie zu fassen, wie es sich anfühlt, eingebunden zu sein. Eingebunden als Einzelner in einen familiären und sozialen Kontext, als Institution in internationale Beziehungen, als abgeschiedener Landstrich in den Lauf der Welt, das Fortschreiten der Geschichte.
Durchbrüche lassen auf sich warten
Einerseits bewerkstelligt die Autorin das mit Hilfe kursiv gedruckter Kapitel, die den Blick zurück ins Jahr 1941 richten: Eine Frau und ihre drei Kinder warten dort kurz vor Weihnachten auf den Vater, der schon seit Tagen nicht vom Meer heimgekehrt ist. Die kleine Tochter, stur und unbewegt auf einem Holzschemel vor dem Fenster in die Richtung starrend, aus der er kommen müsste, ist ein starkes Bild, ein Fixpunkt im steten Wechsel der Perspektiven. Auf den Tellern vertrocknen derweil die gleichen Weihnachtsbrote wie in der Gegenwart. Immerzu thematisiert Ihrén das Gebäck auf den Tischen, zum Beispiel weiß sie, dass der geringe Baumbestand auf den Schäreninseln dafür verantwortlich ist, dass dort seit jeher vor allem Fladenbrot gebacken wird: Es benötigt weniger Hitze und verbraucht so weniger Holz.
Zum anderen wirft sie den Blick voraus in eine bange Zukunft. Der Ermordete hatte an einem geheimen Projekt über die Erwärmung der Meere gearbeitet und sich damit möglicherweise mächtige Feinde gemacht. Doch entgegen allen Warnungen vollendet die „Idun“ ihre Forschungsfahrt und nimmt Kurs auf Spitzbergen, wo die Autorin ihre Figuren vor dem beeindruckenden Gletscherpanorama auf Schneemobile setzt, nur um das sich ankündigende James-Bond-Gedächtnisfinale gleich wieder ironisch zu brechen. Sie beschreibt eine Polizeiarbeit, die sich klar von den spektakulären Einsätzen unterscheidet, wie wir sie aus Agentenfilmen und Fernsehkrimis kennen. Durchbrüche lassen auf sich warten, die Ermittler werden vom Leben abgelenkt, die Festnahmen am Ende hinterlassen selten ein erhebendes Gefühl.
Anna Ihrén schreibt gut über das, was sie kennt. Richtig ärgerlich ist nur, wie plump sie außerhalb dessen auf Klischees zurückgreift. Die russische Enklave Barentsburg auf Spitzbergen atmet bei ihr den „Geist der alten Sowjetunion“, und sobald sie von einer Figur erzählt, die längere Zeit in Afrika verbracht hat – eine genauere Ortsangabe gibt es nicht –, suhlt sie sich im Kolonialkitsch. Von der Ursprünglichkeit des Landes, von armen Dorfschönheiten ist da die Rede, und den schwarzen Adoptivsohn einer Schwedin degradiert sie zum Figurenstereotyp des magical negro, der lebenskluge Hinweise gibt, ohne dabei jemals selbst so etwas wie eine Persönlichkeit zu entwickeln.
Anna Ihrén: „Tod eines Eisfischers“. Kriminalroman. Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann. Harper Collins Germany Verlag, Hamburg 2020. 400 S., br., 12,– €.