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Geschichte der Odenwaldschule : Der Virtuose des Missbrauchs

Wie konnte er Leiter der Odenwaldschule werden? Wieso gebot ihm niemand Einhalt? Gerold Becker in den siebziger Jahren. Bild: ddp

Mit Charisma ging im pädagogischen Paradies der Odenwaldschule alles: Jürgen Oelkers schreibt die Biographie ihres ehemaligen Leiters Gerold Becker und rechnet mit der Reformpädagogik ab.

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          Ein Hochstapler ohne irgendeine pädagogische Qualifikation wird zu einem der einflussreichsten Pädagogen Deutschlands und zum Schulleiter der Odenwaldschule im hessischen Oberhambach. Wie konnte das geschehen, und was weiß man über Gerold Becker, der es perfekt verstand, möglichst wenig von sich preiszugeben und einen lückenhaften Werdegang voller Ungereimtheiten zu präsentieren? Der Züricher Bildungswissenschaftler Jürgen Oelkers hat nach einer mehrjährigen Recherchearbeit auf gut sechshundert Seiten versucht, die vielen dunklen Flecken in Beckers Biographie zu erhellen.

          Heike Schmoll
          Politische Korrespondentin in Berlin, zuständig für die „Bildungswelten“.

          Das gelingt ihm zum Teil in eindrucksvoller Detailarbeit, die aber an entscheidenden Stellen doch so lückenhaft bleibt wie der von Becker inszenierte Lebenslauf. So kann auch Oelkers nicht darlegen, wie sich der überstürzte Abschied Beckers von der Odenwaldschule im Jahr 1985 erklärt. Man wüsste zu gern, ob der mit ihm nicht verwandte Bildungsbecker in Berlin, Hellmut Becker, Gründer des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, damals wieder einmal seine schützende Hand über den Schulleiter der Odenwaldschule gehalten hat und ihn aus dem Verkehr zog, bevor dessen kriminelle Machenschaften auch diejenigen mit in den Abgrund zogen, die sich jahrelang nichtsahnend oder mitwissend für die Reformpädagogik hergegeben hatten - oder ob es doch einen anderen Grund für den Abgang gab.

          Die Entstehung des Missbrauchs

          Oelkers’ Biographie, ein grundlegendes Werk, um die Entstehung des Missbrauchs an der Odenwaldschule zu verfolgen, ist überdies eine große Abrechnung mit der Reformpädagogik und Oelkers’ Antipoden Hartmut von Hentig. „Warum Hentig wegen Becker seinen Sturz riskiert hat, bleibt rätselhaft. Nach langem Schweigen bittet er die Opfer, sie mögen dem toten Gerold Becker Verzeihung gewähren - ohne sich von seinem Freund loszusagen. Auch das ist rätselhaft“, so Oelkers.

          Gesichert dagegen ist, dass Gerold Becker Theologie studiert hat, sein Vikariat in Linz (schon das ist ungewöhnlich für einen Pfarrer der Hannoverschen Kirche) abgebrochen hat (womöglich wegen pädosexueller Verfehlungen, wie Oelkers mutmaßt) und dann ohne eine entsprechende fachliche Qualifikation zum Pädagogischen Seminar nach Göttingen kam.

          Danach wurde er Schulleiter der Odenwaldschule, ohne dafür ausgewiesen zu sein. Er hatte noch nicht einmal ein pädagogisches Examen, geschweige denn ein Lehramtsstudium mit entsprechendem Abschluss. Mit einer abgebrochenen Dissertation hat man ihn zu einem einflussreichen Bildungsfachmann hochgejubelt, ohne dass seine Mimikry jemals aufflog. Seine pädophilen Verbrechen an der Odenwaldschule wurden wortlos geduldet, obwohl ihn nach Aussage eines Altschülers sogar einmal eine Putzfrau dabei ertappte und das auch an die Schulverwaltung und den Betriebsrat meldete.

          Alle schauten weg

          Hellmut Becker wusste von dem Treiben seines nicht verwandten Namensvetters, denn dieser hatte sich ausgerechnet an einem seiner Neffen vergriffen, der sich bei seinem Onkel auch beschwerte. Auch eine Schulsekretärin soll Einblicke in das Doppelleben von Gerold Becker gehabt haben. Die Beschwerden von Schülern bei anderen Lehrern wurden geflissentlich ignoriert, und das kollektive Wegsehen ging weiter. Man ließ Becker gewähren und blendete eine Wirklichkeit aus, die Hunderte von Schülern ein schwer zu bewältigendes Trauma zugefügt hat, das nicht wenige mit Psychosen, Depressionen und Berufsunfähigkeit bezahlten.

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