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Existenzielle Wucht: Jens Harzer Bild: Ina Schoenenburg/Ostkreuz

Hörspiel : Ich wär so gern ein anderer

  • -Aktualisiert am

Stefan Weillers Hörspiel „Die schöne Müllerin“ ist eine sehr gelungene Adaption, die uns Schuberts Liederzyklus neu begreifen lässt.

          3 Min.

          Das Wandern sei des Müllers Lust, weiß eines der bekanntesten deutschen Gedichte. Es ist das Auftaktgedicht von Wilhelm Müllers Liederzyklus „Die schöne Müllerin“, kong­enial vertont von Franz Schubert. Bei aller Wanderburschenromantik ist der unbehauste Müllergeselle eine prekäre Gestalt. Er ringt vergeblich um Anerkennung und soziale Stellung. Seine Liebe zur schönen Müllerin, das Hauptthema der zwanzig Gedichte, bleibt letztlich unerfüllt.

          Stefan Weiller hat eine Adaption der „schönen Müllerin“ geschaffen, in der die dunklen, melancholischen Motive zu heutigen Schicksalsgeschichten ausformuliert werden. Wie schon für seine Neubearbeitung der „Winterreise“ hat Weiller Menschen in Lebenskrisen interviewt und sich Geschichten von psychischer und körperlicher Gewalt angehört, von Tod und Todeswünschen, Erfahrungen mit Krankheit, Sucht, Ausgrenzung und unrettbarer Verlassenheit. Er hat sie verdichtet zu vierzehn berichtenden Texten, die von den Schauspielern Birgitta Assheuer, Jens Harzer und Dagmar Manzel so eindringlich gelesen werden, dass sie alles Sozialreporthafte verlieren und eine literarische Qualität gewinnen, die sich noch einmal intensiviert durch die collagenhafte Einbindung der Gedichte Wilhelm Müllers. Gesang gibt es kaum, aber die expressive Musik Schuberts ist in den Bearbeitungen des Pianisten Hedayet Djeddikar ein es­senzieller Teil des Hörspiels.

          Die Verbindung von existenzieller Wucht und formalem Raffinement prägt schon die erste Geschichte. Ein Mann sitzt am Waldrand im Auto. Der Motor läuft, ein Schlauch leitet die Abgase ins Innere. Dann bricht er ab, aus Trotz, denn er ist „noch nicht fertig mit dem Leben“. Das Hörspiel erzählt seine Lebensgeschichte im Folgenden rückwärts, um jenem Mann zu begegnen, „der er einmal sein wollte“. Es beginnt mit den Abstürzen der jüngsten Zeit: einem Überfall, einem Psychiatrieaufenthalt, dem Verlust der Wohnung. Seine Frau trennt sich von ihm. Dann kommt im Rückmarsch durch die Zeit (das „Wandern“!) das mittlere Elend: Schulden, wegbrechende Aufträge, Schwierigkeiten mit dem Finanzamt. „Unsere Liebe kommt unter die Räder“, heißt es – die sich unaufhörlich drehenden Räder sind ein Grundmotiv in Müllers Gedichten. Schließlich geht es im erzählerischen Rückwärtsgang steil bergauf: ein teures Auto, Gründung des eigenen Geschäfts, die Eheschließung. Zehn Jahre zuvor endet die Geschichte geradezu triumphal: Der Mann verdient gut, lernt „diese phantastische Frau“ kennen und dankt Gott vorschnell „für ein grandioses Leben“. Durch die retroverse Erzählweise wird die Brüchigkeit der Er­folge überaus deutlich. Währenddessen ertönt im Hintergrund das Klavierthema von „Das Wandern ist des Müllers Lust“, in dem immer schon die Unrast mitklingt.

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