Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch im Gespräch : Wir machen eine dunkle Zeit der Wirren durch
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Eine Stimme für die Opfer postsowjetischer Gewalt: Swetlana Alexijewitsch Bild: Kerstin Holm
Was bedeutet die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels für Swetlana Alexijewitsch? Unsere Moskauer Korrespondentin Kerstin Holm hat es von der in Weißrussland lebenden Autorin erfahren.
Was, glauben Sie, könnte diese Auszeichnung Ihrem Land geben?
Tatsächlich ist dieser Preis nicht nur für mich wichtig, sondern für viele. Er bedeutet, dass die Welt diejenigen in Weißrussland und Russland unterstützt, die heute im Gefängnis oder in erzwungener Tatenlosigkeit leben müssen, eine schwere Niederlage erlitten haben und nur versuchen können zu überleben, weniger physisch als vor allem geistig. Weißrussland und Russland machen eine dunkle Zeit der Wirren durch. Ich bin nicht gegen die orthodoxe Kirche, wohl aber gegen die Orthodoxie des sechzehnten Jahrhunderts, die von Zar Iwan dem Schrecklichen mit ihren furchtbaren, unzivilisierten Gesetzen, die Russland heute auf den iranischen Weg zu bringen versucht. In dieser Lage haben nur wenige wie ich die Möglichkeit, zu sprechen und gehört zu werden.
Sie haben Ihre Folge von Büchern über Frauen- und Kinderschicksale im Zweiten Weltkrieg, über Tschernobyl und russische Afghanistan-Tote als eine „Geschichte des Roten Menschen“ bezeichnet. Wobei Ihr Werk durchweg tragische Lebensläufe dokumentiert, es ist ein Blumenstrauß menschlichen Unglücks. Man möchte in Ihnen fast ein weibliches Gegenstück zu Alexander Solschenizyn erblicken, der in seiner Trilogie „Rotes Rad“ die Gründe der sowjetischen Katastrophe aufzeigen wollte. Wie Solschenizyn verließen Sie Ihre Heimat, um später zurückzukehren. Sie und er haben sogar die jeweils umgekehrten Initialen!
Ich bewundere Solschenizyn natürlich. Sein alternatives Geschichtswerk ist eine große Tat. Dennoch würde ich es heute wohl nicht wieder lesen. Solschenizyn schildert das GULag-Dasein als etwas trotz allem Sinnvolles, weil es den Menschen auch reinigt. Mir steht sein literarischer Antipode Warlam Schalamow viel näher. Schalamow war überzeugt, dass die Erfahrung des Lagers keinen Sinn und keinen Nutzen habe, sie verderbe nur Henker und Opfer gleichermaßen. Der harte Dokumentarstil von Schalamows Lagerprosa inspiriert mich bis heute. Dabei ist mir vor allem die Musik des Textes wichtig.
Ihre Bücher bestehen aus sorgsam zusammengestellten Gesprächen mit einfachen Menschen. Bereuen Ihre Informanten manchmal das, was sie Ihnen gebeichtet haben?
Ja, einige können die eigenen Einsichten auf Dauer nicht ertragen. Ich erinnere mich noch gut an eine Mutter, die, als ich ihr zuerst begegnete, auf dem Zinksarg ihres Sohnes saß, der in Afghanistan getötet worden war. Sie berichtete mir, dass der Junge während seiner Ausbildungszeit bei der Armee Generalsdatschen bauen musste und dann bei einem seiner ersten Feldeinsätze starb. Doch etwas später ernannte ein Gericht ihn postum zum Helden. Da verklagte mich die Frau wegen meines in Russland 1991 erschienenen Buchs „Zinkjungen“, das auch ihre Geschichte enthält, als Verräterin. Ich hielt ihr vor: „Aber Natascha, du hast mir das, was dort geschrieben steht, doch selbst erzählt.“ Woraufhin sie entgegnete, das sei meine Wahrheit, von der sie nichts wissen wolle. Was sie brauche, sei ein Held als Sohn.