Frankfurter Anthologie : Jürgen Becker: „Anrufbeantworter“
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Bild: Michael Kretzer
Mit der Beiläufigkeit eines Meisters: Kurze, klare Sätze, die das Reich der verlorenen Zeit aufschließen und in verschiedene Schichten der Vergangenheit führen.
Anrufbeantworter? Wir wissen schon noch, was das ist, wenn auch jene an ein Festnetztelefon angeschlossenen Geräte, bei denen man nach Anhören eines Ansagetextes auf eine Cassette sprechen konnte, längst den Charme von Grammophonen angenommen haben. Eines aber tun und taten sie von jeher nie: Anrufe beantworten. Stattdessen machen sie uns nach dem Piepton ein Angebot. Sie räumen eine empfängliche Stille ein, die wir mit unsrer Stimme brechen können oder nicht. Wir können eine Nachricht hinterlassen, auflegen oder einen Augenblick warten, um uns zu entscheiden, denn wir waren vielleicht nicht für eine solche Art des Sprechens disponiert, sondern rechneten auf ein Gegenüber. Hören wir aber dessen Stimme nur vom Band, können wir nie sicher sein, ob wir unser Gegenüber je erreichen werden, nicht einmal, ob es noch lebt.
Eine solche mit Erwartungen und Unsicherheiten behaftete Schwellensituation hat Jürgen Becker in einem seiner Gedichte eingefangen, die ein ums andere Mal von meisterlicher Beiläufigkeit sind. Zu ihrer Eigenart gehört, dass uns der Autor zwar genügend Anhaltspunkte gibt, um uns eine Szene zu vergegenwärtigen. Aber unendlich viel sagt er uns auch nicht, wir müssen es uns daher vorstellen. Wir nehmen einen Ort mit unseren Sinnen wahr, wie so oft ein Interieur; wir sind in einem Haus, das eine Scheune hat, also in ländlicher Umgebung, und falls wir zufällig wissen, dass der Dichter ein Fachwerkhaus im Bergischen Land besitzt, glauben wir, ihn dort sitzen zu sehen, an einem Tisch, der vielleicht mit einem Wachstuch bedeckt ist.
Mit jedem Satz beginnt eine andere Zeit
Auf dem Tisch das Telefon, daneben ein Stapel Briefe, obenauf die Einladung, auf die der Anrufer reagieren möchte, wenngleich er noch nicht weiß, wie, denn es ist vielleicht zu spät, und er will es abhängig machen von dem, den er anruft – nun aber kommt dessen Stimme vom Band. Der Anrufer verstummt vor der Maschine, er spricht nicht, er lauscht nach innen, und sein Aufzeichnungsgerät ist das Gedicht. So öffnet sich ein Raum, der grenzenlos ist, weil mit jedem Satz eine andere Zeit beginnt. In unserem Denken ist das so, in der Erinnerung zumal.
„Im Stall ist es warm, wärmer als in der Scheune; im Kellergang steht der Apfelgeruch.“ Das sind Sätze wie aus einer Proust’schen Epiphanie, nur dass es eben nicht die weit geschwungenen Sätze von Marcel Proust, sondern kurze, klare Sätze von Jürgen Becker sind, die das Reich der verlorenen Zeit aufschließen. Sätze von beiläufiger Brillanz und Lakonie, die klingen, als wären es fast schon zu viele Worte. Aber jetzt stehen sie da, stehen wie der Apfelgeruch im Kellergang, und haben uns für immer. Fast reicht es schon, denn der Apfelgeruch gibt uns genug zu tun in unserer Phantasie. Wir wissen, es muss Herbst sein, wir sehen einen bestimmten Keller vor uns, wo auch Wäsche hängt, und ein Fahrrad steht dort, angelehnt. Das aber sagt das Gedicht nicht. Es sagt, „wie es war, als elektrisches Licht in die Häuser hier kam“, und kaum einer kann bis heute davon berichten, nur „der kleine Junge weiß es, der jetzt / der alte Nachbar ist“.
Nun nimmt die Erinnerung erst richtig Fahrt auf. Wie in so vielen Gedichten des 1932 in Köln geborenen Autors führt sie in die Zeit des Krieges, den er als Kind in Thüringen erlebte. Doch es sind nicht die eigenen Erinnerungen, die zur Sprache kommen, es ist das Erzählte des alten Nachbarn, der einst der kleine Junge war und der weiß, „daß nichts / passierte, wenn man nichts hörte, und besser, / man hielt den Mund“. Aus der Wiedergabe lapidarer Sätze wird das Wegschauen und Beschweigen des Entsetzlichen ahnbar, und die Angst. Es scheint darin die niemals verlöschende Erinnerung an die als Kind erlebten Bombennächte auf, „ein paar Mal sah es aus, / als würde der Himmel brennen“. Kürzel für Erfahrungen, die lange Zeit immer blasser zu werden schienen. Halb fürchtete, halb hoffte man, sie könnten bald ganz unverständlich sein. Sie verbinden eine Generation, aus der nur noch wenige leben, denen die Albträume ihrer Kindheit heute aus den Nachrichten wiederkehren.
„Nie hört die Nachkriegszeit auf“, heißt es in einem anderen Gedicht von Jürgen Becker. Es könnte auch in diesem stehen. Was geschehen ist, lässt uns nicht los, gerade weil wir es vergessen wollten, zeigt es sich in den unscheinbarsten Augenblicken. Man kann nicht mal in Ruhe telefonieren. Nur klüger werden wir am Ende nicht, denn die Geschichte ist ohne Sinn: „Noch immer die Stimme / vom Band, und ich weiß nicht, was soll ich sagen.“
Was wäre denn zu sagen? Wozu? Wer weiß? Auch der AB gibt keine Antwort. Beckers Verse teilen mit uns diese Unsicherheit. Damit nehmen sie uns an die Hand. Sie sind dabei auf so geräuschlose Weise kunstvoll, dass wir sie kaum als Verse wahrnehmen. Sie machen uns für die Stille empfänglich, in der das Unbewältigte als Bild aufsteigt. Allein schon der Apfelgeruch, den sie speichern, wird das Gerät überdauern, dessen Namen sie wie nebenbei verewigt haben.
Jürgen Becker: „Anrufbeantworter“
Zu spät vielleicht; da liegt noch
die Einladung, aber als die Stimme vom Band
kam, legte ich gleich auf.
Früh dunkel in den Zimmern. Im Stall ist es
warm, wärmer als in der Scheune; im Kellergang
steht der Apfelgeruch. Mit jedem Satz
beginnt eine andere Zeit, und wie es war,
als elektrisches Licht in die Häuser hier kam,
der kleine Junge weiß es, der jetzt
der alte Nachbar ist. Er weiß auch, daß nichts
passierte, wenn man nichts hörte, und besser,
man hielt den Mund. Zu Fuß in die Stadt
ging man den halben Tag; ein paar Mal sah es aus,
als würde der Himmel brennen. Noch immer die Stimme
vom Band, und ich weiß nicht, was soll ich sagen.