Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Anthologie : Johann Wolfgang von Goethe: „Freudvoll und leidvoll“
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Bild: F.A.Z.
„Das schönste, das vollkommenste erotische Gedicht in deutscher Sprache“? Das fand Marcel Reich-Ranicki in Goethes „Freudvoll und leidvoll“.
Der Missetäter heißt Beethoven. Denn durch seine, (übrigens herrliche) Vertonung wurde dieses Gedicht fast unmerklich der deutschen Lyrik entzogen. Aus dem zarten und intimen Lied eines liebenden Mädchens hat er den effektvollen Auftritt einer Primadonna gemacht. Nur der Anfang ist schlicht, dann aber treibt die verhältnismäßig opulente Orchesterbegleitung – zumal das Crescendo vor den Worten „Himmelhoch jauchzend“ – das Ganze ins Hochdramatische: Aus dem Klärchen-Lied wird fast eine Fidelio-Arie. Doch die das summt und singt, ist nicht eine Heroine, sondern des Grafen Egmont naiver Bettschatz. So hat Beethovens Musik den Text Goethes zugedeckt, wenn auch, zugegeben, auf erhabene Weise.
Seitdem ist es üblich, dieses Lied lediglich als ein Bestandteil des Trauerspiels „Egmont“ und nicht als ein selbständiges Gedicht (Gedichttext im Kasten unten) zu behandeln: Es gehört nicht zum Kanon der deutschen Poesie, es findet sich, soweit ich sehe, in keiner Lyrik-Anthologie, es wird von den Herausgebern der Schul-Lesebücher hartnäckig ignoriert. Aber es ist, jedenfalls für mich, das schönste, das vollkommenste erotische Gedicht in deutscher Sprache.
Zwischen Euphorie und Melancholie
Goethes Worte – es sind insgesamt nicht mehr als 23 – beschreiben einen Gemütszustand von außergewöhnlicher Labilität. Ihn charakterisieren extreme Schwankungen – zwischen „freudvoll“ und „leidvoll“ bis hin zu dem Gegensatz von höchstem Lebensgefühl und tiefster Niedergeschlagenheit, wenn nicht Verzweiflung.
Bezieht sich die Formulierung „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt“ auf jemanden, der an einer psychischen Krankheit leidet? Wollte Goethe das Bild eines manisch-depressiven Menschen skizzieren? Nicht unbedingt. Wir haben es jedoch mit einem insofern krankhaften oder zumindest scheinbar krankhaften Fall zu tun, als die raschen und heftigen Schwankungen zwischen Euphorie und Melancholie, von denen hier die Rede ist, keinen rationalen Grund haben. Gleichwohl wird, was sie auslöst, deutlich benannt - allerdings erst mit dem letzten Wort des Gedichts: Es geht um die Liebe.
Das höchste Glück
Zwischen den beiden Gegenüberstellungen – der nachdenklich gemäßigten und der extrem gesteigerten, bei der es keinen Platz mehr für die Vokabel „gedankenvoll“ gibt – verweist Goethe auf das Element, das zu diesen polaren Spannungen und Schwankungen gewiss beiträgt, ja sie offenbar verursacht: die Angst.
Indes heißt es am Ende: „Glücklich allein ist die Seele, die liebt.“ Glücklich trotz der schwebenden Pein? Nein, nicht trotz, sondern eben dank der unentwegten Furcht, das Einzigartige, das kaum Fassbare könne so plötzlich zu Ende gehen, wie es begonnen hat. Nur derjenigen Liebe, die auch gefährdet, also unsicher ist, verdankt der Mensch das höchste Glück. Die Angst erscheint somit nicht bloß als eine unvermeidbare Begleiterscheinung der Liebe, sondern als ihr Fundament und ihre Voraussetzung.
Eine Frage wird zur Belanglosigkeit
Aber wen hat Klärchen im Sinn? In Goethes frühen erotischen Gedichten hören wir immer von einem Partner, von dem Objekt der so intensiven Zuneigung. Klärchen hingegen spricht ausschließlich von sich selber, von ihrer eigenen Liebe. Die Frage, wem dieses Gefühl, das die Zurechnungsfähigkeit des Individuums unzweifelhaft beeinträchtigt, denn eigentlich gilt, wird bewusst ausgespart: Es ist, verstehen wir, eine belanglose Frage. Denn der Gott, man kann es schon bei Plato lesen, ist nicht beim Geliebten, sondern beim Liebenden. Anders ausgedrückt: Die Fähigkeit zu lieben ist ungleich größer und höher als die Gabe – oder sollte man sagen: Gnade? –, geliebt zu werden. Auch darauf deutet dieses prägnante Gedicht hin.
Goethe, haben wir gelernt, wollte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das ist schon richtig. Doch noch mehr, so will es scheinen, interessierte und irritierte ihn die Liebe: Er empfand das Leben erotisch. So hatte er denn auch die Kühnheit zu verkünden: „Da wo wir lieben/Ist Vaterland.“
Freudvoll und leidvoll
Freudvoll
Und leidvoll
Gedankenvoll sein,
Langen
Und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt;
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt.