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Gedicht, Interpretation, Lesung : „Hörst du wie die Brunnen rauschen“ von Clemens Brentano

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Bild: F.A.Z.

Um ein treuherzig-naives Wiegenlied handelt es sich bei diesem Gedicht Clemens Brentanos nur scheinbar. Der es spricht, will mit ihm die Geliebte verzaubern.

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          In herkömmlicher Figurenkonstellation erzählt das „Märchen von dem Myrtenfräulein“ von der Liebe eines Prinzen zu einer Jungfrau. Sie, in einem Myrtenbaum verborgen, betört ihn des Nachts mit ihrem Gesang. Zu Gesicht jedoch bekommt er sie nicht, denn jedes Mal, wenn sie sich nach ihrem Lied („Säusle, liebe Myrte!/Wie still ist’s in der Welt“) zeigen soll, fällt er in tiefen Schlaf. Daher sinnt er auf die List, ihr nun seinerseits ein Schlaflied zu singen, auf dass sie ebenfalls entschlummere und sich nicht mehr verbergen könne. So erblickt er schließlich die „wunderschönste Jungfrau, welche jemals gelebt“ hat.

          Mit den „Italienischen Märchen“, wozu „La Mortella“, das „Myrtenfräulein“ gehört, hat Clemens Brentano, der Sohn eines italienischen Kaufmanns, einige der Geschichten aus dem „Pentamerone“, der berühmten Märchensammlung des Giambattista Basile aus dem siebzehnten Jahrhundert, adaptiert und durch Rollengedichte wie dieses bereichert.

          Die vierhebigen Trochäen, mit Kreuzreim und alternierenden männlichen und weiblichen Kadenzen, verleihen dem kleinen Poem (Gedichttext im Kasten unten) in der Mitte des Märchens jene schwebende Liedhaftigkeit, die nicht nur Brentanos Lyrik, sondern auch die seiner Romantikerkollegen auszeichnet; ganz ähnlich klingt der Beginn von Eichendorffs Gedicht „Lockung“: „Hörst du nicht die Bäume rauschen“. Doch im Rahmen der romantischen Chiffrenkonvention der Brunnen, Träume, Wolken, Sterne und Blumen spielt Brentano virtuos mit akustischem Vokabular.

          Frankfurter Anthologie : Clemens Brentano: „Hörst du wie die Brunnen rauschen“

          Mit dem zweimaligen „Hörst du“ und im Parallelismus der ersten beiden Verse wird eine Abendstimmung evoziert, intensiviert durch die wiederholte Aufforderung, still zu sein und zu „lauschen“. Das Todesmotiv („stirbt“) deutet auf das Ende des Lebens, aber mehr noch auf die Hingabe an den Traum, die „selig“, glückselig macht. Dreimal wird das Wort in diesem kurzen Gedicht verwendet, verstärkt noch durch die Alliteration „Wolken wiegen“.

          Wenn der personifizierte „Mond“ das „Schlaflied“ singt, wird es dem Träumenden möglich, die rauhe Wirklichkeit hinter sich zu lassen, „selig“ zu „fliegen“, und dies umso mehr, als der Traum selbst „den Flügel schwingt“. Der blaue Himmel, von dem die Rede ist, gerät nicht zum Gemeinplatz, sondern wird durch die Metapher der „Himmelsdecke“ und im Enjambement mit dem folgenden Vers artifiziell verfeinert; man fühlt sich an den gemalten Sternenhimmel im legendären Bühnenbild von Karl Friedrich Schinkel zu Mozarts „Zauberflöte“ erinnert. Die Unwirklichkeit der Bilder, ja ihre Surrealität kulminiert in dem Vers „Sterne er wie Blumen pflückt“, mit dem Brentano eine poetisch-existentielle Formel anklingen lässt, die er mehrfach in verschiedenen Gedichten eingesetzt hat: „O Stern und Blume, Geist und Zeit/Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!“.

          Das Geheimnis der Myrte

          Dass es sich nur scheinbar um ein treuherzig-kindliches ‚Wiegenlied‘ handelt, macht auch die Verwendung der dritten Person Singular im Mittelteil des Gedichts deutlich, mit der sich der Dichter von naiver Unmittelbarkeit distanziert. Mit der sich steigernden Aufforderung „Schlafe, träume, flieg’“ folgt die direkte Ansprache des lyrischen Ichs oder der Rollenfigur („ich wecke/Bald Dich auf“), mit der Absicht, die Seligkeit des Träumens in die reale Welt hereinzuholen. Der Zauberspruch soll seine Wirkung tun, der Wunsch erfüllt werden.

          Wachen und Schlafen umschreiben in Mythos und Märchen, vom Gilgamesch-Epos bis zu „Tausendundeiner Nacht“, oft die Situation einer tiefgreifenden Prüfung, einer lebensentscheidenden Erfahrung. Bei Brentano gelingt dem Prinzen das Wachbleiben in der achten Nacht mittels seines Gedichtvortrags: Die Poesie ist der Schlüssel zur Entdeckung eines beglückenden Geheimnisses.

          Von der Bibel und der antiken Literatur bis zur Dichtung der Neuzeit reicht das Symbol des Brunnens, das hier am Anfang des Gedichts die zukünftige Liebesbeziehung intoniert, ebenso wie das der Myrte aus dem Märchenkontext. Jakob und Moses begegneten ihren Frauen am Brunnen, Adam soll eine Myrte aus dem Garten Eden mitgenommen haben, als Erinnerung an paradiesisches Glück. Aus den Zweigen des Olivenbaums, der Weide, der Palme und der Myrte wurden Laubhütten gebaut. Sie galt als Pflanze der Aphrodite, aus der immergrünen Myrte, Symbol der Reinheit und Unschuld, wurde der Brautkranz geflochten. Doch konnte sie auch als Zeichen der Trauer dienen. Das zentrale Märchenmotiv mit seiner Ambivalenz von Liebe, Tod und dessen Überwindung wird in den Bildern dieses Gedichts entfaltet, das um 1811 entstand und Jahre später zunächst in einer Zeitschrift gedruckt wurde, bevor es 1846/47 in der postumen Ausgabe der „Italienischen Märchen“ erschien.

          Hörst du wie die Brunnen rauschen

          Hörst du wie die Brunnen rauschen,
          Hörst du wie die Grille zirpt?
          Stille, stille, laß uns lauschen,
          Selig, wer in Träumen stirbt.
          Selig, wen die Wolken wiegen,
          Wem der Mond ein Schlaflied singt,
          O wie selig kann der fliegen,
          Dem der Traum den Flügel schwingt,
          Daß an blauer Himmelsdecke
          Sterne er wie Blumen pflückt:
          Schlafe, träume, flieg’, ich wecke
          Bald Dich auf und bin beglückt.

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