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Gedicht, Interpretation, Lesung : „aus Fernen, aus Reichen“ von Gottfried Benn

  • -Aktualisiert am

Bild: F.A.Z.

Gottfried Benn verstand etwas vom Tod, aus beruflichen und privaten Gründen. Lange hat er sich gegen jegliche Transzendenz verwahrt, das Gedicht „aus Fernen, aus Reichen“ aber deutet in eine andere Richtung. Es handelt von Verlässlichkeit.

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          Das Gedicht ist so unheimlich und gleichzeitig so klangvoll schön, man muss es zweimal lesen, um den radikalen Inhalt einzufangen. Achtzeilige Strophen, kreuzgereimt, in fallenden Rhythmen mit abwechselnd männlichen und weiblichen Kadenzen: Wie ein evangelisches Kirchenlied, etwa der Choral „Nun danket alle Gott / mit Herzen, Mund und Händen“, hört sich dieses Benn-Gedicht an (Gedichttext im Kasten unten). Es beginnt mit einer Umschreibung des Todes: „was dann nach jener Stunde / sein wird, wenn dies geschah“; in der dritten Zeile geht es dann bereits darum, was später kommt: Zeichen, eine Schattenhand, Blicke, Klavierspiel, geheime Male: das ganze Repertoire des Schaurigen wird aufgefahren, einen Raum „dahinter“, hinter dem Leben zu umschreiben.

          Den sehr jungen Benn kannte man anders. Der gelernte und praktizierende Arzt, der alles über die Stadien der Verwesung wusste, veröffentlichte 1912 - er war Mitte zwanzig - seinen schmalen Erstling „Morgue und andere Gedichte“, eine Sammlung, die den expressionistischen Gestus mit der schockierenden Härte der Todesbeschreibung verband. Zur Zeit der Niederschrift von Gedichten wie „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“ („Hier, diese blutet wie aus dreißig Leibern / Kein Mensch hat so viel Blut. / Hier dieser schnitt man erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoss“) arbeitete Benn als Assistenzarzt der Pathologie.

          Frankfurter Anthologie : aus Fernen, aus Reichen

          Dieser Dichter war es, der immerzu den Verlust eines transzendenten Weltgefühls beklagte. Und doch ist in Benns Werk ab etwa 1920 dezidiert der Glaube an eine immaterielle, geistige Instanz herauszulesen, die, wenn auch nicht gleichzusetzen mit dem christlichen Gott der Offenbarung, mit jenem große Ähnlichkeiten aufweist.

          Man kennt die Biografie vom die Extreme liebenden, zeitweilig sogar den Nationalsozialismus verteidigenden Dichter-Arzt, der dann 1938 jedoch aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde und Schreibverbot erhielt. Doch schon vor dieser, wenn man so will, Phase der Verblendung zeigte er sich immer wieder als Künstler, der sich in seine Worte einschloss, um in seinen Formulierungen Sinn und utopische Fluchtmöglichkeiten zu suchen. „Wer das verlor, was du verlorst, macht nirgends Halt“. Diese Gedichtzeilen von Friedrich Nietzsche bedeuteten Benn, dessen Wille zur Grenzüberschreitung - bei Drogen, Frauen, und eben in der Kunst - seit jeher groß war, sehr viel. Sein Bewusstsein einer existenziellen Ortlosigkeit war sicher den Verwüstungen, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts hervorbrachte, geschuldet, doch ebenso wohl seiner ureigenen psychischen Verfassung.

          Der Raum jenseits der Grenze, den Benn in „aus Fernen, aus Reichen“ besingt, hat nichts Heimeliges; „gebrochene Schlünde“ und „ersticktes Licht“ gibt es anscheinend; die „große schöne Hand“, die von dort kommt, wird zwar zu spüren sein, aber ohne dass sie das empfindende „Ich“ berührte. Das Preislied ist unheimlich; auch die Liebe bleibt Erinnerung („ich kannte deine Blicke / und in des tiefsten Schoß / sammelst du unsere Glücke“), Assoziationen zu Fruchtbarkeit oder Eros bleiben Andeutungen. Zuletzt stirbt der Mensch alleine („- erlöst auch er“).

          Das Gedicht stammt von 1927. Benn schrieb es fünf Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau. Die politischen Verhältnisse waren bereits verworren. Auf was verließ sich der Dichter, der sich auf nichts mehr verlassen konnte, aber eben doch immer einige Menschen, gerade Frauen, traf, die ihm und seinen Kindern wohl gesonnen waren?

          Schicksalsvertrauen wäre eine der möglichen Reaktionen, die dieser Text in seiner gebetsartigen Intensität im Leser hervorrufen könnte, Versöhnungsbereitschaft mit dem Dasein an sich durch die Einsicht, dass es bei aller Unsicherheit eben doch einen größeren Plan hinter allem gibt. Das Gedicht stellt einen Aufruf zum Vertrauen dar, eben weil es das Leben nach dem Tode zwar unscharf, aber sehr sicher zu denken versucht. Es ruft wieder eine Ahnung dessen hervor, welche Möglichkeiten noch jenseits der Wissenschaft, der Leiblichkeit, der Vernunft - ja, vielleicht selbst jenseits der Worte, liegen. Den Menschen ist die Gabe der Hoffnung geschenkt worden, doch was wirklich kommen wird, sprengt ihre Vorstellungskraft.

          So erscheinen in der letzten Strophe die Tempi, die Benn in der Syntax benutzt, auf einmal seltsam vertauscht: „wenn die Nacht wird weichen“ - liegt in der Zukunft, steht aber vor der Zeile: „wenn der Tag begann“, was eine unmittelbar darauf folgende Vergangenheit zu sein scheint. Es werden keine Rätsel aufgegeben, sondern es wird von Geheimnissen berichtet; und es sind auch in diesen Zeilen wiederum die bewusst gewählten Reime, die alle Widersprüche im Klang vereinen: kein Stolz, keine Verachtung soll demnach angesichts des notgedrungenen Sterbens herrschen, stattdessen Gläubigkeit und Wachheit den Zeichen gegenüber. Das Ende findet in einer Stimmung des Aufbruchs statt, die hoffen lässt. Ist die letzte Grenze überschritten, werden sich dem Menschen die letzten Gründe offenbaren - Benn dichtet hier, als wüsste er darum mit Gewissheit.

          aus Fernen, aus Reichen

          was dann nach jener Stunde

          sein wird, wenn dies geschah,

          weiß niemand, keine Kunde

          kam je von da,

          von den erstickten Schlünden,

          von dem gebrochnen Licht,

          wird es sich neu entzünden,

          ich meine nicht.

           

          doch sehe ich ein Zeichen:

          über das Schattenland

          aus Fernen, aus Reichen

          eine große, schöne Hand,

          die wird mich nicht berühren,

          das läßt der Raum nicht zu:

          doch werde ich sie spüren

          und das bist du.

           

          und du wirst niedergleiten

          am Strand, am Meer,

          aus Fernen, aus Weiten:

          „- erlöst auch er“;

          ich kannte deine Blicke

          und in des tiefsten Schoß

          sammelst du unsere Glücke,

          den Traum, das Loos.

           

          ein Tag ist zu Ende,

          die Reifen fortgebracht,

          dann spielen noch zwei Hände

          das Lied der Nacht,

          vom Zimmer, wo die Tasten

          den dunklen Laut verwehn,

          sieht man das Meer und die Masten

          hoch nach Norden gehn.

           

          wenn die Nacht wird weichen,

          wenn der Tag begann,

          trägst du Zeichen,

          die niemand deuten kann,

          geheime Male

          von fernen Stunden krank

          und leerst die Schale,

          aus der ich vor dir trank.

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