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Frankfurter Anthologie : Adam Zagajewski: „Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen“

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Bild: FAZ

Poetischer Trost in schwierigen Zeiten: Mag die Welt auch beschädigt sein, von ihren Schönheiten können die Dichter immer noch noch singen.

          2 Min.

          „It’s the end of the world as we know it“, zischt zynisch Michael Stipe im R.E.M.-Refrain des gleichnamigen Songs. Es ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Wieder einmal. Dabei ist jeder Tag ein Paradigmenwechsel. Ob schön oder schrecklich, mit jeder Erdendrehung kurbelt sich alles Richtung Nichts. Sonnentage, beblümt und beschwingt, lassen diese Wahrheit schmerzhaft spüren. Krisentage, trist oder tödlich, würzen ihr Ende mit Erleichterung. Auch wenn sie mitunter tiefere Spuren in die Erinnerung kerben als die goldensten Tage.

          So auch jener wolkenlose Dienstag im September 2001, mit dem Adam Zagajewskis Gedicht seitdem in Verbindung gebracht wird. In Wahrheit hatte der Autor seinen Text früher verfasst. Durch einen Abdruck in der Zeitschrift „The New Yorker“ nach den Anschlägen vom 11.September 2001 wurde er jedoch zum Trost in finsteren Zeiten. So wie der jüdische Einwanderer Irving Berlin das berühmteste amerikanische Weihnachtslied komponierte, wurde das Poem eines Polen, der über die Nachkriegsruinen einer Jugenderinnerung schrieb, das berühmteste Gedicht zum 11. September.

          Miniaturen der Besonderheit

          Darin liegt zum einen das schöne Eigenleben, das alles Literarische annimmt – wie flüssig es sich durch die Risse des Konkreten drängt und in neuen Kontexten aufscheint, wie vielseitig sein Trost zu werden vermag. Zum anderen liegt es an der entzückenden Einfachheit von Zagajewskis Zeilen, daran, dass sie die Kontexte gerade nicht nennen und für neue Zusammenhänge offenbleiben.

          Ungereimt und unaufdringlich, dabei (im Original wie in der Übertragung) klar durchrhythmisiert – dieses Gedicht macht kein Aufhebens von seinem Verlangen nach Trost. Und aus seiner Sprache macht es keinen Panzer, täuscht nicht mit einer nebulösen Rätselrede über etwas hinweg, was nicht da ist.

          Zagajewski schildert Einzelmomente, flimmernd vor Eindruck und Erinnerung, so wie in vielen seiner Gedichte die erinnerten Kindheitseindrücke der Heimat Lemberg zu Miniaturen der Besonderheit werden. Aus dieser Heimat war die Familie des 1945 geborenen Dichters im Rahmen der Umsiedlung der polnischen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten Polens nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden. Diese Erfahrung prägte seine Dichtung, selbst wenn sie oft nur nebenbei darin erscheint.

          Sie scheint verantwortlich für die eine Seite der Eindruckswelt dieses Gedichts. Dort steht die „verstümmelte Welt“: die Leere nach der Flucht („verlassene / Gehöfte der Vertriebenen“), die Gleichgültigkeit des Todes (Henker, „die fröhlich sangen“; „das salzige Nichts“). Die „Narben der Erde“ sind tief, die gesamte Welt scheint von ihnen gezeichnet. Der Ausdruck „die verstümmelte Welt“ ist vierfach durchs Gedicht gestreut, alles steht im Schatten der Beschädigung. Doch das Gedicht vergisst die andere Seite nicht. Gegen die wuchtige Überwältigung der bewusst vieldeutig gehaltenen Verstümmelungen stehen die ganz konkreten Kleinigkeiten einer anderen Welt, einer Dingwelt der Besonderheiten, wie sie am ehesten den Kindern auffallen – oder jenen, die Trost so nötig haben, dass sie ihn vielleicht in allem finden. Dort sind „die Eicheln im Park“, „die graue Feder“ einer Drossel, „die Erdbeeren, die Tropfen des Weins rosé“. Kleine, meist unbedeutende Dinge, die in ihrer Unterscheidung von der zerstörten Welt aber eine erhabene Größe annehmen, Dinge, die es wert sind, besungen zu werden, wenn Schreck und Schmerz die Aufmerksamkeit kolonisieren.

          Wie ein Zwiegespräch mit sich selbst gehalten, wird aus der Aufforderung zum Versuch dieses Besingens erst ein Zwang („Du mußt“), dann ein Rat („Du solltest“) und schließlich etwas, das einem gelassenen Entschluss gleicht: „Besinge die verstümmelte Welt“.

          Neben der Ironie ist dem Menschen das Singen gegeben, und wie Brecht wusste, wird man auch in den finsteren Zeiten singen, eben von den finsteren Zeiten. Oder von der verstümmelten Welt. Nötig hat sie es immer, und verdient hat sie es auch.

          Der Moment des Singens wird kommen, immer wieder, so wie ein neuer Tag, und die finsterste Stunde, die wie das Ende scheint, ist manchmal nichts als der stille Moment des Wartens aufs „sanfte Licht“. Der Moment, bevor die Musik explodiert.

           

          Adam Zagajewski: „Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen“ / „Spróbuj opiewać okaleczony świat“

          Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen.
          Denke an die langen Junitage,
          und an die Erdbeeren, die Tropfen des Weins rosé.
          An die Brennesseln, die methodisch verlassene
          Gehöfte der Vertriebenen überwucherten.
          Du mußt die verstümmelte Welt besingen.
          Du hattest die eleganten Jachten und Schiffe betrachtet;
          eines davon hatte eine lange Reise vor sich,
          ein anderes erwartete nur das salzige Nichts.
          Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen.
          Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen.
          Du solltest die verstümmelte Welt besingen.
          Denke an die Augenblicke, als ihr beisammen wart
          in dem weißen Zimmer und die Gardine sich bewegte.
          Erinnere dich an das Konzert, als die Musik explodierte.
          Im Herbst sammeltest du Eicheln im Park
          und die Blätter wirbelten über den Narben der Erde.
          Besinge die verstümmelte Welt
          und die graue Feder, die die Drossel verlor,
          und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet
          und wiederkehrt.

          Aus dem Polnischen von Karl Dedecius

          ***

          Spróbuj opiewać okaleczony świat.
          Pamiętaj o długich dniach czerwca
          i o poziomkach, kroplach wina rosé.
          O pokrzywach, które metodycznie zarastały
          opuszczone domostwa wygnanych.
          Musisz opiewać okaleczony świat.
          Patrzyłeś na eleganckie jachty i okręty;
          jeden z nich miał przed sobą długą podróż,
          na inny czekała tylko słona nicość.
          Widziałeś uchodźców, którzy szli donikąd,
          słyszałeś oprawców, którzy radośnie śpiewali.
          Powinieneś opiewać okaleczony świat.
          Pamiętaj o chwilach, kiedy byliście razem
          w białym pokoju i firanka poruszyła się.
          Wróć myślą do koncertu, kiedy wybuchła muzyka.
          Jesienią zbierałeś żołędzie w parku
          a liście wirowały nad bliznami ziemi.
          Opiewaj okaleczony świat
          i szare piórko, zgubione przez drozda,
          i delikatne światło, które błądzi i znika
          i powraca.

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