Frankfurter Anthologie : Thomas Kling: „Das brennende Archiv“
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Der jung gestorbene Dichter Thomas Kling war ein radikaler Durchrüttler lyrischer Traditionen. Doch in diesem kurzen Gedicht fehlt sein typisch unruhiger Sound. Es handelt vom Tod und dem Erinnern.
Mühelos hat dieses Gedicht (Text im Kasten unten) mein schlechtes Gedächtnis überwunden und sich in das private Archiv eingeschrieben. Wenn ich es aufsage, meistens stumm, dennoch lauschend, durchquere ich eine weite, nicht näher definierte Landschaft, vorbei an Bildern und Installationen, die reale oder phantastische Situationen und Erfahrungen widerspiegeln. Immer aufs Neue mobilisieren die Verse eigene Verknüpfungen, schmerzen und trösten.
Wer an einer Trauerfeier teilnimmt, gehört für kurze Zeit zu einer Gruppe, die durch den Toten definiert ist. Der erste Vers kennzeichnet dieses Gedenken als Merkmal der Gattung Mensch, mögen die Riten noch so verschieden sein. In Europa assoziieren wir eine dunkel gekleidete, stille Versammlung. Umso heftiger wirkt der Kontrast, mit dem der zweite Vers die graue Skizze des ersten aufbricht: da lodern plötzlich die Flammen, ein heißes Rot überstrahlt das Schwarz. Unwillkürlich setzt man „Herz“ mit Lebensintensität und Liebe gleich, sogar mit Hoffnung, wie vage auch immer. Aber nein, von Hoffnung findet sich zunächst keine Spur. Das Feuer verwandelt alles in Asche, mit dem Körper werden auch die Erinnerungen des Toten, jene in langen Jahren gesammelten Texte und Bilder, in denen der Archivierende sich selber las, vernichtet. Das Herz war ihr Speicherort, sagt das Gedicht, nicht der Kopf. Das immerhin sollten die Lebenden verstehen.
Langsamer Gang zum Fluss
Ebenso unerwartet erscheinen im nächsten Verspaar die Engel und nicht näher charakterisierte „alte Gaben“. Bezieht sich das „es“ aufs Gedenken? Oder auf das „Archiv“? Ist darin die Erinnerung der Engel aufgehoben oder solche an die Engel, ist der Genitiv subjektiv oder objektiv? Oder öffnen die Engel nur den Raum für eine metaphysische Antwort auf die Eingangsverse? Wie auch immer, halten wir inne und betrachten die Epiphanie auf goldenem Grund, wo die großen, geflügelten Boten des Göttlichen etwas Unerkennbares in den Händen halten. Woher und warum erscheinen sie? Prophezeien sie Untergang? Verkünden sie Rettendes? Sind wir für ihre Gaben überhaupt gemacht? Und müssen wir sterben, um ihrer ansichtig zu werden?
Ehe die Fragen in Seufzer münden, versetzt uns der Beginn der Schlussverse in eine andere, nüchtern ausgeleuchtete Gegend. „Die Formel Tod“: als wäre die Endlichkeit mathematisch zu fassen und das Grauen, das sie hervorruft, durch Abstraktion zu bezwingen. Vertrauter ist da schon das Bild der Überfahrt und des „Übersetzens“ in seiner doppelten Bedeutung. Als Hüter mythologischer Bilder beschwört der Dichter den Fluss, wo der Fährmann wartet, der die Seelen ins Totenreich bringt. Aber vielleicht ist es auch nicht falsch, da Kling in der Nähe von Düsseldorf lebte, Beuys‘ berühmte Überquerung des Rheins, die „Heimholung“ im Einbaum, als moderne Konkretisierung des Mythos hinzuzudenken.
Thomas Kling starb vor zehn Jahren, nicht einmal 48 Jahre alt. Er war ein radikaler Durchrüttler lyrischer Traditionen, ein Erneuerer und Performer, der bei seinen legendären Auftritten die Sprache der Poesie an das Sprechen zurückband. Dieses Gedicht verzichtet auf den typischen, unruhigen Kling-Sound. 1997 zu einem privaten Anlass entstanden und in einem Nachlass-Dossier veröffentlicht, begleitet es knapp und ernst unser Wandern durch die Zeit.
Thomas Kling: „Das brennende Archiv“
menschen gedenken eines menschen.
herz – brennendes archiv!
es ist erinnerung der engel;
erinnerung an alte gaben.
die formel tod, die überfahrt –
die wir zu übersetzen haben.