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Frankfurter Anthologie : Ror Wolf: „Drei unvollständige Versuche das Leben zu beschreiben. Zweiter unvollständiger Versuch“

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Bild: Barbara Klemm

Ror Wolf ordnet sein Leben nach den Namen von Orten, an denen er wohnte. Sein Zuhause fand er in Mainz, dort ist er am 17. Februar diesen Jahres verstorben.

          3 Min.

          Der Geburt folgt der Bruch. Die erste Zäsur ist der Anfang, Existenznötigung, Lebenszwang. Geburtstrauma, sagt die Psychoanalyse. Geworfenheit, sagt Martin Heidegger. Ich lese lieber Ror Wolf. Denn der untergräbt die Traumata aller Anfänge und Enden mit seiltänzerischer Leichtigkeit, mit „Heckmeck, Hokuspokus“, mit „Wortakrobatik, Spaß“, immer, als wäre alles längst dagewesen und man sei erst jetzt eingetaucht oder hineingekrochen.

          Wolfs erster Langprosatext von 1964 – der Gattungszerschnetzler mied den Begriff Roman – trug bereits den Titel „Fortsetzung des Berichts“ und folgte Erzählmustern von Wiederholung und Überlagerung, Aufbruch und Rückkehr, als Versuch, das Diktat der vorandrängenden Zeit zu zerlegen, „denn die Zeit, die bügelt alles glatt“, als Versuch, die Lebensleere mit Sprachmasse, Bildfülle und Erinnerungsanhäufung zu überwuchern.

          Die Gedichte mit dem Titel „Drei unvollständige Versuche das Leben zu beschreiben“ sind 1968, 1995 und 2002 entstanden. Sie folgen einer ähnlichen Anordnung von Ausbruch und Ankunft, sind eine Reihung von Auf und Ab, mit Ortsnennungen überlagert, deren Koordinaten den Lebensstationen Ror Wolfs ähneln. 1932 in Saalfeld geboren, siedelte er 1953 in die Bundesrepublik über und musste 34 Mal umziehen, bis er 1989 schließlich auf dem Mainzer Kupferberg ankam, wo das Ich dieses Gedichts „mit der Geduld eines Steins“ wohnen blieb.

          In seinem Kosmos ist ein Abschluss nie das Ende

          In den drei Gedichten nähert sich das sprechende Ich nur in der Mitte, dem „Zweiten unvollständigen Versuch“, einem Ziel. Im dritten geht es weiter. In Wolfs Kosmos heißt Abschluss nie Ende. Alles hat es immer gegeben, alles geht weiter seinen Gang. Das rhythmisch, klanglich perfekt gearbeitete Hingleiten in diesem zweiten unvollständigen Versuch steht völlig im Kontrast zum inhaltlich ruhelosen Oszillieren des Gedichtverlaufs und seines Sprechers.

          Das Leben beginnt abseitig, „am Rande der Saale“, und gleich wird das subtil Seltsame von Wolfs Sprache deutlich, wenn dieser Rand trotzdem die Mitte der Welt darstellt, in die man hineinkriechen muss. Im ersten unvollständigen Versuch heißt es krasser: „Herausgerupft im Juni um zwei Uhr,/mit Zangen nachts hinein in die Natur“. Als hätte die große Büglerin Zeit den gewaltvollen Moment geglättet – zwischen erstem und zweitem Versuch liegen 27 Jahre –, so werden die Brüche im zweiten Versuch nuancierter transportiert.

          Erstmals wird die klanglich durchgeformte Reihung der Anfangsstrophe inhaltlich gebrochen, wenn das Ich eine Serie von Erlebnissen, Handlungen oder Gefühlen berichten will, bevor es unvermittelt abbricht und auf „ein anderes Feld“ verweist. Im Anschluss erfolgt die Mahnung zum Aufbruch. Also, raus aus Saalfeld!

          Bundesrepublikanisch-geographisch betrachtet, zieht es das Ich zunächst nach Westen und in die Mitte des Landes, nach Frankfurt nämlich, dort jedoch in den Süden der Stadt. Nur um dann, vielleicht schmutzerfahrungsgemäß, nach Norden weiterzudriften, wo die angerissenen Erlebnisse womöglich ein unbehaustes Umherziehen andeuten. Wieder südlich also, in die Schweiz, dann erneut östliches Deutschland, nochmals Schweiz, wo das Ich abermals nicht verweilt und sich zum entferntesten Punkt vom Ausgang begibt, ins klanglich klappernde Manhattan.

          Es ist der Klang, der schon in der vorletzten Strophe durch sanftere, längere Silben langsam ein Ausgleiten, ein Einpendeln bewirkt. Nach der zerhackten Kurzsilbigkeit in der vorherigen Strophe, wie in „dort war ich mal oben mal unten“, übernimmt nun ein weicherer Ton, hervorgerufen durch genügsam langgezogene, mitteleuropäische Ortsnamen („Paris“, „Gonsenheim“, „Wiesbaden“).

          Die ersten Worte der letzten Strophe („Ich habe gewohnt“) wiederholen noch einmal die erste Zeile der vorigen, fünften, sowie die ersten beiden Zeilen der dritten Strophe. Durch Wortwiederholung und Klangspiegelung entspinnt sich ein Sprachnetz, das das gesamte Gedicht ineinanderschlingt. Wie in Ror Wolfs Collagen, wo keines der übereinandergelagerten und nebeneinander aufgeklebten Objekte am falschen Platz scheint, entwirft der Autor in diesem formvollendeten Gedicht auf der Inhaltsebene eine ruhelose Reise nach Mainz, die durch kompositorische Ordnungsliebe schließlich aber zu einem Ruhepol führt.

          Das Unkonkrete („Ich habe gewohnt in den Bergen“) mündet in der ganz konkreten Gegenwart („jetzt wohn ich am Kästrich in Mainz“). Nun besitzt das Ich diesen Ort (Mainz – meins). Und diese Stadt gehört seit seinem Tod am 17. Februar auf ewig mit Ror Wolf zusammen.

          Ich werde Ror Wolf lesen – mit der Geduld eines Steins – und ihn bis ans Ende meines Lebens vermissen. Doch ich weiß auch, dass er jetzt das ist, was er literarisch schon immer war: unsterblich.

          Ror Wolf: „Drei unvollständige Versuche das Leben zu beschreiben. Zweiter unvollständiger Versuch“

          In Saalfeld am Rande der Saale,
          da kroch ich hinein in die Welt,
          da habe ich einige Male –
          doch das ist ein anderes Feld.

          In Frankfurt, in Sachsenhausen,
          da blies mir der Dreck ins Gesicht,
          in Hamburg war ich oft draußen,
          doch das fällt hier nicht ins Gewicht.

          Ich habe gewohnt in Sankt Gallen,
          ich habe gewohnt in Berlin,
          da bin ich hinuntergefallen,
          da fahre ich wieder mal hin.

          Ich bin nicht in Basel geblieben,
          dort war ich mal oben mal unten,
          ich bin nach fünf, sechs oder sieben
          Jahren aus Basel verschwunden.

          Ich habe gewohnt in Manhattan,
          in Gonsenheim und in Paris,
          im Nebel, im Dunst und im fetten
          Wiesbaden, im Regen, im Gries.

          Ich habe gewohnt in den Bergen,
          jetzt wohn ich am Kästrich in Mainz.
          Ich möchte am Ende bemerken:
          mit der Geduld eines Steins.

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