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Frankfurter Anthologie : Ron Padgett: „Dies dazu“

  • -Aktualisiert am

Bild: FilmMagic

Ein Gedicht ist kein Nahrungsmittel, auch wenn es noch so sinnlich daherkommt. In diesen Versen geht es aber nicht nur um den Nachweis dieses Kategorienfehlers, sondern auch um die Verneigung vor einem großen Dichter.

          3 Min.

          Als Kind hätte ich mich fast einmal aus einem Korb mit wächsernen Früchten bedient. Nachdem meine Großmutter mich zurechtgewiesen hatte, dass er nur zur Dekoration dastehe (wir waren bei einem alten Ehepaar zu Gast, das neben Wachsfrüchten auch Plüschhunde und Häkeldecken besaß), konnte ich mich innerlich nicht genug darüber entrüsten, wie jemand Vergnügen an falschem Obst auf seinem Tisch finden könne. Vielleicht wollten sie allzeit, auch wenn es mal kein frisches Obst gäbe, an die süße Frucht erinnert werden? Pflaumen, einmal vom Baum geerntet, lassen sich nicht ewig frisch halten, die köstlichen Mirabellen oder Eierpflaumen aß ich am liebsten auf den Feldwegen, an deren Rändern sie damals noch in Thüringen wuchsen. Sind sie einmal getrocknet, sieht es schon anders aus: dann kommt man mit Pflaumen übers ganze Jahr.

          Ich habe mich immer gefragt, in welcher Jahreszeit eigentlich William Carlos Williams’ berühmtes Gedicht „This Is Just To Say“ spielt: Das lyrische Ich – Ron Padgett identifiziert ihn im obigen Gedicht als den Dichter, den bei Paterson in New Jersey lebenden Arzt William Carlos Williams und sein Gegenüber, bei der er sich entschuldigt, als Williams’ Frau Florence „Flossie“ Williams, liest es also als eine Art autobiographischer Beichte – hat die Pflaumen aus dem Eisschrank genascht, bevor beide sie zum Frühstück hätten genießen können. Eine kleine Niedertracht, die nur durch die atemberaubende Schlichtheit der lyrischen Konfession wieder wettzumachen ist. Es muss im Spätsommer zur Erntezeit der Pflaumen bei mitunter noch hochsommerlichem oder schwülem Wetter gewesen sein, lässt man sie über Nacht stehen, setzen sie leicht Schimmel an, zumindest wenn sie schon reif oder gar überreif sind. Und Trockenpflaumen würde man kaum im Kühlschrank verwahren. Nein, die Pflaumen müssen reif und erntefrisch gewesen sein, und um diesen Zustand zu bewahren, waren sie dorthin gewandert, wo es der Dichter nicht unterlassen konnte, sie zu entwenden – „they were delicious / so sweet / and so cold“. Wem dabei nicht das Wasser im Mund zusammenläuft, der hat die Sinnlichkeit des Gedichtes nicht verstanden.

          Pflaumen aus Paterson

          Gleichwohl ist ein Gedicht nun mal kein Nahrungsmittel, und sei es auch ein Gedicht über die köstlichsten Pflaumen der Welt. Insofern gleicht es den wächsernen Früchten, die ich als Kind versucht gewesen war zu naschen: nicht zum Verzehr bestimmt, zum Anschauen allein, genau wie die Trauben des griechischen Malers Zeuxis von Herakleia, welche der Überlieferung zufolge so täuschend echt gewesen sein sollen, dass die Vögel sie ihm von der Leinwand picken wollten. Eine Anekdote zum Wirklichkeitsstatus der Kunst: das Nachgeahmte ist nicht der Gegenstand selbst, sondern seine Darstellung – daraus bezieht Magrittes „Ceci n’est pas une pipe“ seinen bleibenden Witz. Ähnlich die Wörter: Williams’ Pflaumen sind die Pflaumen seines Gedichts (und deshalb auch nach achtzig Jahren noch immer frisch), nicht die seines Haushalts, wo er es schrieb.

          Die kategoriale Differenz zwischen Kunst- oder Gedichtgegenstand und Realie ärgert offenbar den Dichter Ron Padgett, aber wir sollten vor zu viel Tiefsinn nicht vergessen, dass es (ebensowenig wie die Vorlage von Williams) alles andere als ein tiefsinniges oder gar dunkles Gedicht sein möchte, sondern sein Reiz gerade in der unprätentiös offenen und schlichten Diktion liegt, die wie von selbst auf die Pointe des Kategorienfehlers (das Wort „Pflaume“ für die Frucht zu halten) zuläuft und vor allem eines sein möchte: eine witzige, absolut originelle Verneigung vor William Carlos Williams, ohne dessen „This Is Just To Say“ es „This For That“ gar nicht gäbe.

          Der 1942 in Tulsa, Oklahoma, geborene und seit seiner Studienzeit in New York lebende Ron Padgett ist mit seiner vermeintlich simplen – aber Einfachheit ist bekanntlich die schwierigste Kunst – lyrischen Diktion von Anfang an dem 1963 verstorbenen Vorbild Williams verpflichtet gewesen, ohne ihn dabei je nur zu imitieren: Der wahrscheinlich größte Anreger amerikanischer Poesie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird fortgeschrieben, aufgegriffen und neu arrangiert, zum Beispiel mit Elementen der New Yorker Künstler- und Dichterwelt, jener auf John Ashbery, Kenneth Koch und Frank O’Hara folgenden „second generation“ der New York School, zu der man ihn mit Ted Berrigan und Larry Fagin zählte, mit Verweisen auf französische Dichter wie Guillaume Apollinaire oder Blaise Cendrars, die er übersetzte, und vor allem mit dem Alltag des Dichters in der Megalopolis zu Anfang des neuen Jahrtausends angereichert: „This for That“ erschien zuerst 2001 in Padgetts Sammlung „How To Be Perfect“.

          Jim Jarmusch hat mit seinem Film „Paterson“, der nicht nur wegen des Titels eine einzige Hommage an Williams‘ gleichnamiges Langgedicht ist, vorgeführt, wie natürlich und unaufdringlich Poesie in Lebensalltag aufgehen, Gedichte Teil einer vermeintlich unpoetischen Lebenspraxis sein und jenseits blinder Verklärung Quelle von Inspiration und Schönheit sein können – wer (Williams’) Gedichte liest, sieht einfach mehr! Die Gedichte in Jim Jarmuschs „Paterson“ stammen von Ron Padgett, der in diesem Jahr fünfundsiebzig wird. Mittlerweile ist er als einer der wichtigsten amerikanischen Lyriker der Gegenwart anerkannt und zum Kanzler der „American Academy of Poets“ gekürt worden. Rolf Dieter Brinkmann hat ihn 1969 in der Anthologie „Silverscreen“ erstmals auf Deutsch vorgestellt. Es ist Zeit, ihn wiederzuentdecken.

          Ron Padgett: „Dies dazu“ / „This for That“

          Was werd ich frühstücken?

          Hätt‘ ich nur ein paar Pflaumen

          wie die in Williams’ Gedicht.

          Bat seine Frau um Verzeihung,

          dass er sie aß,

          aber wen er nicht

          um Verzeihung bat, sind jene,

          die sein Gedicht lasen

          und sie ebensowenig essen konnten.

          Deshalb mag ich sein Gedicht,

          wenn ich gerade keinen Hunger habe.

          Genau jetzt mag ich ihn nicht

          oder sein Gedicht. Das sollte nur mal

          dazu gesagt sein.

           

          Aus dem Amerikanischen von Jan Volker Röhnert.

           

          ***

          What will I have for breakfast?

          I wish I had some plums

          like the ones in Williams’s poem.

          He apologized to his wife

          for eating them

          but what he did not

          do was apologize to those

          who would read his poem

          and also not be able to eat them.

          That is why I like his poem

          when I am not hungry.

          Right now I do not like him

          or his poem. This is just

          to say that.

           

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