Frankfurter Anthologie : Rolf Dieter Brinkmann: „Eiswasser an der Guadelupe Str.“
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Bild: Christa Donner
Gerade hatte er noch als Berserker des bundesdeutschen Kulturbetriebs gegolten, da schob er Frühlingsverse von anrührender Einfachheit nach. Was war mit Rolf Dieter Brinkmann um das Jahr 1974 geschehen?
„Überhaupt sollten Pflanzen und Blumen mehr ihre Titel von den menschlichen Gemüthsbewegungen hernehmen...eine andere Pflanze Minnetrost, Sehnsuchtskeim, Thränenquell, Venuslächeln, wie wir schon das Venushaar besitzen“, schreibt der Romantiker Ludwig Tieck 1832 in seiner Novelle „Der Jahrmarkt“. Rolf Dieter Brinkmann stellt das Zitat 1974 als Motto über sein fragmentarisches Amerika-Poem „Eiswasser an der Guadelupe Str.“, das mit untenstehendem Gedicht beginnt: in ihrer Einfachheit und Alltäglichkeit fast anrührende Verse von einem Frühlingsabend in irgendeiner Großstadt der westlichen Hemisphäre.
Wie natürlich mischen sich Versatzstücke von Natur – „Baumschatten“, „Spatzen“, „eine gelbe Abenddämmerung“ – mit „Neonlichtern“, „Ölflecken“ und der „Tasse/Kaffee, die ein Pappbecher/ist“, unaufdringlich, doch umso sanfter, „langsam/und ohne Hast“ miteinander. Unversehens verwandelt sich die „Kulisse der Vorstadt“ mit ihren „zerfallenen Holzgitter“ in eine anmutige Szenerie, ist einem Schwebezustand gewichen, der die Zumutungen von Geld, Welt und Leben in ein beinah schwereloses Nichts entrückt – wie konnte der als Berserker verschriene Brinkmann, der ein paar Jahre zuvor den bundesdeutschen Kulturbetrieb hatte kurz und klein schlagen wollen, eine derart friedliche Szenerie in Worte setzen?
In der Mitte von Nirgendwo
Der Orts- und Zeitzonenwechsel machte es möglich. Brinkmann war vom deutschen Department der texanischen Universität von Januar bis Mai 1974 nach Austin eingeladen worden, um Schreib- und Literaturkurse zu geben – das Jahr zuvor war Ernst Jandl dort gewesen, das Jahr danach sollte es Heiner Müller sein. Ein Traum hatte sich für den Lyriker erfüllt: Zwischen 1968 und 1970 hatte er mehrere Anthologien mit amerikanischer Gegenwartspoesie herausgegeben, die unter dem Flaggschiff von Pop und Postmoderne damals noch weitgehend unbekannte Stimmen und Schreibweisen nach Deutschland brachten. Dort war seine Vermittlungsarbeit von den politisierenden Freunden und Generationskollegen nicht nur positiv, sondern teilweise verächtlich aufgenommen worden – aus dem Land der Napalmbomber durfte nichts Gutes kommen, selbst wenn es auf seine Art subversiv gemacht war.
Brinkmann dachte in anderen Bahnen. Für ihn stellte der amerikanische Kulturimport der Nachkriegszeit eine Sphäre dar, in der es sich als Dichter zurechtzufinden galt. Es half nichts, Neonreklamen, Coca-Cola oder Gangsterfilme abzulehnen, wenn sie ohnehin die Oberfläche und das Bewusstsein der Zivilisation durchdrangen. Brinkmann setzte sich ihnen unter der Devise aus, etwas anderes als das Intendierte daraus zu machen oder darin zu sehen. 1973 war er hasserfüllt mit Hans Henny Jahnn, Karl Philipp Moritz und Johann Wolfgang Goethe unter dem Arm durch das römische Abendland spaziert, das ihm mit seinen antiken Bildungszitaten im Schatten der unaufhaltsamen Amerikanisierung wie ein schlechter Witz erschienen war; nun jedoch, in Texas, sah er diese „Kulisse“ aus Medien, Publicity und Wegwerfgeschirr im Land ihrer Entstehung und vor dem Hintergrund eines schier endlosen Raumes, der sich in die Wüste hinein verliert (ein anderer Deutscher, Wim Wenders, sollte diesem Raum zehn Jahre später unvergessliche Bilder abgewinnen). In der Mitte von Nirgendwo sandten die Vorposten der Zivilisation plötzlich nichts Bedrohliches mehr aus, sondern konnten tatsächlich ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln.
Brinkmann hat es sich nicht leichtgemacht, die mögliche Anmut eines Frühlingsabends am Rand der rumorenden Großstadt zu zeichnen, davon zeugen die mitten im Wort zerschnittenen Zeilen, die Sinn erst beim Lesen über die Versgrenzen hinweg ergeben, davon zeugt der angehaltene Atem, ein höchstens halblautes Sprechen am Lärmpegel vorbei, das den Moment dennoch, wenn auch gebrochen, in einem Gedicht mit einer Art von einfachem Strophenschema und einem rhythmischen (daktylisch fließenden) Grundschema festzuhalten sucht. Die Abenddämmerungen mit den mächtigen Texaseichen an Straßenrändern (wie er sie auf den Fotos seines lyrischen Vermächtnisses „Westwärts 1&2“ festhielt) erinnerten ihn an die Dämmerungen seiner norddeutschen Kindheit. Und er dachte zurück an die fragilen Freundschaften mit den zwei anderen Romantikern seiner Generation, mit Nicolas Born und Peter Handke. Ein Jahr und einen Monat später, am 23. April 1975, starb Brinkmann, der die unwirtliche Gegenwart zumindest für Momente mit der Anmut eines Romantikers wahrgenommen hatte, auf Londons Straßen bei einem Verkehrsunfall.
Rolf Dieter Brinkmann: „Eiswasser an der Guadelupe Str.“
warme Dunkelheit mit
Neonlichtern, Baumschatten
hinter den Häusern, ver
schiedene Stimmen, das
ist Frühling. Auf dem
gelben sandigen Weg morgens
die Spatzen, ein zerfallenes
Holzgitter, einige schwarze
Ölflecken auf dem Weg, die
Kulisse der Vorstadt, die kei
nen Unterschied macht zu der
Innenstadt: verschiedene Wege,
die nirgendwoher kommen,
direkt aus der Mitte. Ich
vermisse nur die Hühner,
sagte die Lady mit
den rotgeschminkten Lippen.
Ist das ein Anfang? In den
Büros bewegt sich der auto
matische Dollar, riesige
Summen über der Tasse
Kaffee, die ein Pappbecher
ist. Eine gelbe Abenddämmerung,
sie bleibt stehen, das Licht
neben dem Bücherturm, aus
dem dünnen Schiebefenster
gesehen. Der Tag endet in
den Baumgestrüppen, warm
und dunkel, jenseits der
zerfallenen Holzgitter und der
zerfallenen Häuser, langsam
und ohne Hast, mit Anmut.