Frankfurter Anthologie : Rainer Maria Rilke: „Rühmen! das ists ...“
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Bild: DLA-Marbach
Die Geschichte der Lyrik kennt kaum einen Geniestreich, der nicht doch noch überarbeitet worden wäre. Warum das so ist, zeigt mitunter nur der Blick ins Archiv – und die Kenntnis des Werks und seiner Entstehung.
Ein Sonett von Rainer Maria Rilke und eines seiner berühmtesten, das siebte der „Sonette an Orpheus“ aus dem Jahr 1923; es rühmt das Dasein gegenüber dem Tod, rühmt das Bleibende gegenüber allem fleischlichen Zerfall, dem es trotzdem illusionslos ins Auge sieht. Und doch, nach der ersten Strophe steht hier ein anderer Text, als er sich in allen Ausgaben findet. Diese Version nämlich existiert nur als Manuskript und ist Teil jenes Gernsbacher Rilke-Archivs, das jetzt unter großem öffentlichen Interesse in das Deutsche Literaturarchiv Marbach übergegangen ist. Und es zeigt, was aus der Arbeit eines Autors zu gewinnen ist für das Verständnis dessen, worauf es am Ende allein ankommt: für das Verständnis des fertigen, vollendeten Gedichts.
Dass ein Dichter arbeitet an seinen Sätzen, ist selbstverständlich; selten ist der erste Wurf schon der letzte. „Rühmen! das ists ...“ ist auch in der Manuskriptfassung ein fertiges Gedicht, und so fragt sich, warum Rilke nur an der ersten Strophe festhält, mit der das Thema gesetzt ist, die letzten drei aber streicht und vollkommen neu schreibt. Waren sie einfach schlechter? Sicher nicht. Schreckte der Dichter zurück vor dem Blick in das offene Grab, wo „verfault und verwürmt“ die Könige liegen, im „Markte der Maden“? In der gedruckten Fassung sind die Ausdrücke gedämpft, doch mit „in den Grüften der Könige Moder“ bleibt das Grundmotiv unverändert. Warum also hat er sein Sonett umgeschrieben?
Die Arbeit des Poeten
Es gibt ein Gedicht von Charles Baudelaire, das Rilke immer wieder stark bewegt hat: jenes furchtbare, großartige „Une Charogne / Ein Aas“, das etwas wagt, was kein Dichter zuvor gewagt hat, und Stefan George hat es sogar übersprungen in seiner bedeutenden Übersetzung der „Fleurs du Mal“. Beim Spaziergang steht der Dichter mit seiner Geliebten unvermittelt vor einem toten, verfaulten, verwürmten Tier. Mit unverkennbarer Lust am Grauen beschreibt Baudelaire den „prachtvollen Rumpf“, beschreibt den Gestank, die summenden Fliegen, die „schwarzen Bataillone“ der Maden, und grausamer noch, er sagt der Geliebten, die „ohnmächtig ins Gras zu sinken“ droht, dass auch ihr das gleiche Ende droht: „Und dennoch wirst du diesem Unrat gleichen, / diesem ganz durchseuchten Greuel, / Stern meiner Augen, Sonne meines ganzen Wesens, / mein Engel du und meine Leidenschaft! // Ja! derart wirst du sein, o Königin voll Anmut, / wenn, nach den Sterbesakramenten, / unter Gras und fette Blumen gebettet, / du verschimmelst zwischen dem Gebein.“
In Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ steht „Ein Aas“ an entscheidender Stelle: „Erinnerst Du Dich an Baudelaires unglaubliches Gedicht ‚Une Charogne‘? Es kann sein, daß ich es jetzt verstehe. Abgesehen von der letzten Strophe war er im Recht. Was sollte er tun, da ihm das widerfuhr? Es war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt. Auswahl und Ablehnung giebt es nicht.“